Hohenpeißenberg:Wissenschaft über den Wolken

Lesezeit: 4 min

Auf dem Hohen Peißenberg werden seit 238 Jahren wichtige Erkenntnisse über das Klima gewonnen. Nun wird die Augenbeobachtung des Wetters eingestellt. Meteorologie ist zum Politikum geworden.

Von Armin Greune, Hohenpeißenberg

Wer am Observatorium ankommt, kann trotz der kurzen Auffahrt nachempfinden, warum vom "Hohen" Peißenberg gesprochen wird. Selbst wenn dieser von den Gletschern der Eiszeit herausmodellierte Felsrücken bloß 988 Meter über den Meeresspiegel ragt, fühlt man sich in alpine Höhen versetzt. Vor allem wenn man den Blick bergab über Pfaffenwinkel und Fünfseenland schweifen lässt und an den Hängen der Gemswurz leuchtet, ein gelber Korbblütler, der sonst nur auf Schuttfeldern nahe und jenseits der Baumgrenze heimisch ist. Kein Wunder, dass vor 500 Jahren eine Kapelle auf dem unbewohnten Berg errichtet wurde, die man vor 400 Jahren um eine Wallfahrtskirche ergänzte: Es gibt wohl keinen Ort im weiten Umkreis, wo sich fromme Menschen näher bei Gott fühlen könnten. Ebenso nachvollziehbar ist, dass die dort dem Unbill des Wetters von allen Seiten ausgesetzten Augustinerchorherren vor einem Vierteljahrtausend auf die Idee kamen, die Launen der Atmosphäre zu vermessen und akribisch niederzuschreiben.

Heute birgt auf dem Inselberg nicht nur die Kirche Maria Himmelfahrt Kostbarkeiten. Auch im Meteorologischen Observatorium wird ein Schatz bewahrt: Die Aufzeichnungen der bis zu 238 Jahre zurückreichenden Messreihen sind von großer Bedeutung für die globale Wetter- und Klimaforschung. Die World Meteorological Organization und die UNESCO griffen Anfang der 1960er Jahre auf die dort registrierten Beobachtungen zurück, um die Klimaveränderung zu untersuchen: Sie haben erheblich dazu beigetragen, dass die Politik Klimaforschung viel ernster als vor 50 Jahren nimmt. Die in der weltweit ältesten Bergwetterwarte gesammelten Daten sind auch deshalb so wertvoll, weil sie frei von Wärmeinseleffekten sind, die durch neue Gebäude in der Umgebung eintreten - wie es bei langjährig aktiven Wetterstationen etwa in Städten der Fall ist.

Das Meteorologische Observatorium Hohenpeißenberg ist die älteste Bergwetterwarte der Welt. Es liegt 977 Meter hoch auf dem Hohen Peißenberg. (Foto: Arlet Ulfers)

Doch nun steht dieser einzigartigen Institution eine Zäsur bevor: Vom kommenden Jahr an stellt der Deutsche Wetterdienst die Augenbeobachtung der Klimawerte allmählich ein. Bis 2022 soll ein vollautomatisches Messnetz aufgebaut sein, denn Daten wie Temperatur, Sonneneinstrahlung, Niederschlagsmenge, Windgeschwindigkeit oder Luftfeuchte können automatische Sensoren vielfach exakter und weniger fehleranfällig bestimmen. Zudem registrieren Maschinen die Werte kontinuierlich und nicht nur zu den berühmten "Mannheimer Stunden" 7, 14 und 21 Uhr.

Dennoch sollen die derzeit noch fünf Wetterbeobachter auf dem Hohen Peißenberg während der Umstellung mehrere Jahre lang die Kontinuität der Messreihen überwachen. "Und manchmal spinnt auch ein Automat", weiß Christian Plaß-Dülmer, Leiter des Observatoriums. Zudem seien Kenngrößen wie Sichtweite, Wolkenformen und -bedeckungsgrad noch nicht automatisiert zu erfassen; die Erkennungsprogramme müssen erst weiterentwickelt werden. Grundsätzlich sieht sich die Meteorologie aber heute neuen Aufgaben gegenüber, die über die klassische Wetterregistrierung und -vorhersage hinausgehen.

Der 57-jährige Physiker Christian Plaß-Dülmer ist seit 2014 Leiter des Observatoriums. (Foto: Arlet Ulfers)

Viele Jahrzehnte lang nutzten die Mönche, Pfarrer und Lehrer auf dem Hohen Peißenberg ihren Ausguck übers Alpenvorland nur zur Wetterbeobachtung. Erst im Auftrag der Societas Meteorologica Palatina, dann für die Bayerische Akademie der Wissenschaften und schließlich im Dienst des Bayerischen und Deutschen Wetterdienstes wirkten sie isoliert und relativ unbeachtet von der Öffentlichkeit in den Wolken. Doch inzwischen steht die Meteorologie längst im Brennpunkt politischer Interessen: "Früher saßen wir ein bisschen im Elfenbeinturm. Heute sind wir mit tagesaktuellen Themen befasst", sagt Plaß-Dülmer. Deshalb muss er den Berg öfter verlassen, als seine Vorgänger: Im Schnitt ist der Observatoriumsleiter an zwei Tagen der Woche unterwegs.

Vom Büro aus bietet sich eine prächtige Perspektive auf die Ammergauer und Allgäuer Alpen. Aber in seinem Arbeitsfeld ist nun ein anderer Überblick gefragt: Um die komplexen Vorgänge in der Atmosphäre zu erfassen, müssen Zusammenwirkungen physikalischer, chemischer und biologischer Faktoren betrachtet werden. Und so ist auch Plaß-Dülmer kein studierter Meteorologe sondern ursprünglich Physiker, der in Jülich über die Wirkung von organischen Spurengasen auf die atmosphärische Chemie promovierte, bevor er 1995 nach Hohenpeißenberg kam.

Etwa zur gleichen Zeit wurde das Observatorium einer von derzeit 31 Forschungsstützpunkten im Netz von "Global Atmosphere Watch". Das weltumfassende Klimaüberwachungsprogramm soll langfristig die Hintergrundbelastung mit Luftverunreinigungen und Spurenstoffen erfassen, um deren Wirkungen auf Klima und Umwelt besser zu verstehen. Organische Spurengase etwa wirken sich unter anderem auf die Aerosolbildung in der Atmosphäre aus. Aerosole sind sehr unterschiedliche Schwebstoffe natürlichen oder industriellen Ursprungs, die auf vielfältige Weise das Wetter beeinflussen: So dienen sie als Kondensationskerne für Tropfen- und Wolkenbildung, die Temperatur und Niederschlag auf der Erde maßgeblich regeln."Es gibt noch viele Bereiche und Wechselwirkungen, die wir noch nicht bis ins Letzte verstehen, die sich aber auf die ganze Menschheit auswirken", sagt Plaß-Dülmer. Internationale Zusammenarbeit werde immer wichtiger. 2016 wurde im Rahmen des europäischen Integrated Carbon Conservation System ICOS ein Klimagas-Messnetz ins Leben gerufen. 16 Mitarbeiter in Hohenpeißenberg koordinieren die Untersuchung der auf acht hohen Türmen im Bundesgebiet registrierten Daten. Sie sollen so auch den Erfolg politischer Maßnahmen zur Reduzierung des Ausstoßes von Treibhausgasen kontrollieren.

Ermutigende Signale in dieser Richtung vermitteln die Ozonmessungen des Observatoriums. 1967 ließ man dazu erstmals vom Hohen Peißenberg Ballons aufsteigen - noch bevor bekannt war, dass die als Treibgase, Kältemittel oder Lösemittel eingesetzten FCKWs die Ozonschicht zersetzen. Die Messreihen zeigen erst den fortschreitenden Abbau des Ozons, das in der Stratosphäre den Großteil der harten UV-B-Strahlung absorbiert und so die Menschheit etwa vor Hautkrebs schützt. Inzwischen ist an den Daten des Observatoriums seit dem FCKW-Verbot eine Erholung der Ozonschicht abzulesen. Jüngste Untersuchungen legen jedoch nahe, dass sie sich nicht überall regeneriert.

Plaß-Dülmer ist somit Chef von etwa 50 Wissenschaftlern. (Foto: Arlet Ulfers)

Für Atmosphärenforschung und Wettervorhersage hat die Radarmeteorologie besondere Bedeutung erlangt. 1968 wurde auf dem Hohen Peißenberg das erste Radargerät zur Niederschlagsortung und -messung installiert. Nach dem Hagelunwetter 1984 wurde ein deutscher Radarverbund aufgebaut, dessen neuere Systeme auch zwischen festen und flüssigen Niederschlagsformen unterscheiden können. Inzwischen wird an Modellen gearbeitet, um die Entstehung von Gewitterzellen und die Wahrscheinlichkeit von Wetterkatastrophen kurzfristig und exakt für einzelne Orte zu berechnen. Hierzu habe es "in jüngster Zeit massive Einstellungen" gegeben, sagt Plaß-Dülmer: Derzeit forschten etwa 20 DWD-Wissenschaftler im Dienste dieses Warnmanagements. Ein Problem bleibe, "dass Wetter ein chaotisches System ist, in dem sich viele verschiedene Kausalitäten mit minimalen Effekten auswirken." Es sei die Tendenz zu beobachten, dass Hagel und Starkregen im Alpenvorland wegen der Klimaerwärmung immer häufiger und stärker ausfallen. "Aber statistisch ist das noch nicht nachzuweisen", sagt Plaß-Dülmer.

Für die Meteorologie sei ein Trend zur anwendungsorientierten Forschung klar erkennbar. Ein Thema sei etwa die Stickoxidbelastung in Städten, ein anderes die Bedrohung des Flugverkehrs durch Vulkanasche. Das auf dem Hohen Peißenberg installierte LIDAR, das Laserimpulse in die Atmosphäre schickt, wird inzwischen auch zum Aufspüren von Asche in der Atmosphäre eingesetzt. Das Forschungsinteresse und die hohe gesellschaftliche Aufmerksamkeit für ihre Aufgaben sei ein großer Motivationsschub für die rund 50 Mitarbeiter in Hohenpeißenberg, meint Plaß-Dülmer. Aufgrund der langen Tradition habe sich ein hohes Qualitätsbewusstsein bei den Klimaforschern auf dem Inselberg etabliert: "Der Geist von Hohenpeißenberg zeichnet sich durch guten Zusammenhalt und ein besonderes Arbeitsklima aus".

© SZ vom 07.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: