Eine Exil-Ukrainerin erzählt:"Das Land, aus dem ich komme, existiert nicht mehr"

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Olena Yeromenko unterrichtet derzeit an der Gilchinger Mittelschule eine Brückenklasse. (Foto: Nila Thiel)

Olena Yeromenko hilft ihren Landsleuten seit Kriegsbeginn als Dolmetscherin und Lehrerin. In ihrer Drei-Zimmer-Wohnung nimmt sie elf Familienmitglieder auf, die aus der Ukraine geflüchtet sind. Dabei lernt sie ihre Wahlheimat Deutschland nach 18 Jahren noch einmal neu kennen.

Von Olena Yeromenko, Gilching

Kurz nachdem Putin seine Truppen über die ukrainische Grenze geschickt hatte, kam der Krieg auch bei mir in München an. Meine Verwandten, elf Personen insgesamt, flohen vor den Bomben zu mir, in meine neue, zweite Heimat. Innerhalb einer Woche kamen sie nach und nach in unserer 78 Quadratmeter großen Wohnung in München unter. Einige schliefen auf dem Sofa oder auf aufblasbaren Matratzen, andere auf dem Boden. Meine drei Zimmer wurden kurzerhand zur Flüchtlingsunterkunft.

Ich möchte ehrlich sein: Für mich, meinen Lebensgefährten und unsere neun Monate alte Tochter war das ziemlich anstrengend. Aber wir haben es gerne in Kauf genommen. Was ist schon etwas Enge im Vergleich zu Putins Panzern? Mein leiblicher Vater, er ist 66 Jahre alt, wollte sein Heimatland nicht verlassen. Bis heute ist er zu Hause geblieben. Ich habe das inzwischen akzeptiert.

SZ PlusEine Exil-Ukrainerin erzählt
:Wie mich der Krieg einholte

Olena Yeromenko ist vor 18 Jahren nach Deutschland gekommen, ein Teil ihrer Familie lebt aber noch immer in der Ostukraine. Hier erklärt sie, warum für sie der Krieg schon 2014 begann - und wie es sich jetzt anfühlt, für eine Russin gehalten zu werden.

Von Olena Yeromenko

Eigentlich habe ich als VIP-Betreuerin am Münchner Flughafen gearbeitet. Dort habe ich auch meinen Lebensgefährten kennengelernt. Er ist wie ich aus der Ukraine und lebt seit vielen Jahren in Deutschland. Seit der Geburt unserer Tochter war ich in Elternzeit. Aber als der Krieg ausbrach, wusste ich, dass ich an anderer Stelle gebraucht werde. Auf meine kleine Tochter konnte jetzt meine Familie aufpassen.

Mitte März, ein paar Wochen nach dem Kriegsbeginn, fing ich im Auftrag der Stadt München deshalb als Dolmetscherin für Ukrainisch an - am Hauptbahnhof, in einer Flüchtlingsunterkunft und in einer Erstaufnahmestelle zur Registrierung. Ich hörte sehr viele dramatische Lebensgeschichten. Oft ging ich danach sehr bedrückt nach Hause. Fast alle Geflüchteten kamen mit Bussen oder Zügen nach Deutschland. Sie waren seit mehreren Tagen unterwegs. Viele hatten Kleinkinder oder/und Haustiere mit dabei. Die meisten hatten kein Gepäck bei sich und bekamen Kleidung von der Caritas.

Im März kamen viele Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine am Münchner Hauptbahnhof an. (Foto: Florian Peljak)
Die Anlaufstelle der Caritas am Münchner Hauptbahnhof. Das war einer von Olena Yeromenkos ersten Einsatzorten. (Foto: Wolfgang Maria Weber/imago)

Für mich ist es kaum nachvollziehbar, dass so viele Menschen mit dem Beginn des Krieges alles verloren haben - alles, wofür sie mehrere Jahre und sogar Jahrzehnte gearbeitet hatten. Aber zumindest sind sie am Leben. Der Caritas-Stand am Hauptbahnhof in München zählte zu meinen ersten Einsatzorten als Dolmetscherin. Dort habe ich auch zufällig eine sehr nette und herzige Frau kennengelernt. Sie heißt Barbara - und sollte sich als echter Engel herausstellen.

Sie fragte mich nach meiner persönlichen Lage. Diese war sehr prekär, denn in dieser Zeit hatten wir in unserer Drei-Zimmer-Wohnung immer noch acht Flüchtlinge untergebracht: meine Mutter, meinen Stiefvater, Cousine und Neffe, den Enkel des Stiefvaters sowie den Vater meines Lebensgefährten, seine Tante und einen Onkel. Und tatsächlich: Barbara bot mir an, sie alle in einem Haus in Gauting unterzubringen.

Sie freuten sich über den friedlichen Himmel und die ruhigen Nächte ohne Luftalarm

Ich hätte nicht gewagt, davon zu träumen - bei der fast hoffnungslosen Wohnungssituation. Bis auf meinen Schwiegervater ist meine Verwandtschaft dann tatsächlich ein paar Tage später mit ihren Habseligkeiten nach Gauting umgezogen. Sie freuten sich alle über den friedlichen Himmel, die ruhigen Nächte ohne Luftalarm und das Dach über dem Kopf. Derweil durfte unsere kleine Talia Sofia ihren Opa besser kennenlernen: Der Vater meines Lebensgefährten wohnt weiterhin bei uns und betreut unsere Tochter tagsüber.

Barbara hat als Freiwillige sehr oft vielen ukrainischen Flüchtlingen geholfen. Sie ist sogar zusammen mit anderen Freiwilligen zur polnisch-ukrainischen Grenze gefahren, um die Flüchtlinge dort abzuholen. Mir fehlen die Worte, um meine Dankbarkeit für Barbara und ihre Geschwister auszudrücken - für alles, was sie für meine Familie und für meine Landsleute getan haben!

Weil es schwer vorherzusagen ist, wie sich der Krieg in den nächsten Wochen und Monaten entwickelt, versucht meine Familie, sich in Deutschland zu integrieren. Sie besuchen Deutschkurse, die Kinder gehen in die Schule. Jeden Tag lernt meine Verwandtschaft etwas Neues. Besonders schätzen sie die Sicherheit in Deutschland. Hier ist jeder krankenversichert. Gleichzeitig fehlt ihnen ihr Zuhause. Ob sie hier Arbeit finden werden? Die Chancen dürften nicht schlecht stehen: Sehr viele ukrainische Flüchtlinge, die nach Deutschland kamen, sind gut gebildet. Nach meinen Beobachtungen hat der Großteil der ukrainischen Flüchtlinge mindestens einen Hochschulabschluss, einige sogar mehrere.

Ukrainische Bücher wurden aus Schulen und Bibliotheken verbannt

Der Großteil der Familie ist in Sicherheit, ein Glück. Aber der Krieg geht immer weiter. Ich kann und will ihn nicht ausblenden. Ständig denke ich an die Menschen in der Ukraine, verfolge die Nachrichten und versuche, meine dort gebliebenen Verwandten und Bekannten zu kontaktieren. Doch meistens muss ich warten, bis ich angerufen werde oder Nachrichten auf das Handy bekomme - wegen der vielen Zerstörungen ist das Mobilfunknetz in der Ukraine sehr schlecht.

Am schlimmsten sind für mich die Momente, wenn ich erfahren habe, dass Verwandte oder Bekannte ausreisen wollen und ich nicht weiß, wo sie sind. Von meinem Vater habe ich zuletzt vor drei Wochen gehört. Er hat sich in seiner Wohnung im besetzten Rubischne in der Region Luhansk verschanzt. Raus geht er nur, um etwas zu essen zu kaufen - wenn denn die Lieferungen ankommen. Zuletzt gab es drei Wochen lang kein Brot.

Russland beschießt fast täglich mit vielen Raketen oder Drohnen Objekte der kritischen Infrastruktur. Kriegsverbrechen sind das - mit dem Ziel, die zum Überwintern notwendige Wärme und Elektrizität zu zerstören und dadurch den Widerstand der Ukrainer zu brechen. Ich kann mir das gar nicht vorstellen, wie für uns selbstverständliche Dinge wie Wasser und Wärme plötzlich zu einem Luxusgut werden.

Eine Frau pflanzt Blumen unter einer zerstörten Büste des Dichters Taras Schewtschenko in Borodjanka. (Foto: Friedrich Bungert)

Der "Faust" der Deutschen ist in der Ukraine "Kobzar", eine Gedichtsammlung des Nationalpoeten Taras Schewtschenko. Er gilt als Grundsteinleger der modernen ukrainischen Literatur. Seine Bücher gibt es in meiner besetzten Heimatstadt Rubischne nun nicht mehr. Sie wurden von den Russen aus den Bibliotheken und Schulen verbannt, so wie alle ukrainischen Bücher. Im Zuge der "Russifizierung" gibt es jetzt nichts Ukrainisches mehr.

Als Zahlungsmittel gilt der Rubel, in den Schulen wird seit September ausschließlich in Russisch unterrichtet. Es wird ständig nach pro-ukrainischen Menschen in besetzten Gebieten gesucht - und sie werden vernichtet. In den Häusern und Wohnungen von ukrainischen Bürgern, falls die Häuser noch unversehrt sind, werden russische Soldaten einquartiert, damit sie in diesen leben können. Derlei Schilderungen meines Vaters und von Bekannten schmerzen mich sehr.

Krieg und Flucht haben bei den Kindern Spuren hinterlassen

Die Schulen in Deutschland haben viele ukrainische Kinder aufgenommen. Einige haben sogar Brückenklassen organisiert, um den Kindern die Integration zu erleichtern. Nachdem ich in der Ukraine den Lehrerberuf gelernt habe, beschloss ich, mich an der Mittelschule in Gilching zu bewerben. Die Rektorin war sehr nett und half mir mit den Papieren. In der Brückenklasse konnte ich in den vergangenen Monaten beobachten, was der Krieg mit den ukrainischen Kindern gemacht hat.

Zum Glück sind die Kinder, mit denen ich arbeite, nicht psychisch verletzt oder durch den Krieg in Mitleidenschaft gezogen. Allerdings haben der Krieg und die Flucht einige Spuren in deren Weltanschauung hinterlassen. Manche Kinder etwa erzählen mir, dass ihr Schulfreund in der Ukraine nicht mehr lebe, weil er zur falschen Zeit auf der Straße unterwegs gewesen sei. Und das mit 15 oder 16 Jahren.

Leider können die meisten Kinder nicht in den ihrem Alter entsprechenden Klassen aufgenommen werden, da die Deutschkenntnisse noch nicht gut genug sind. Das demotiviert einige. Viele wollen nicht verstehen, dass sie zuerst die deutsche Sprache lernen müssen, um die Regelklassen besuchen zu können. Alle Kinder erzählen, wie gut es ihnen zu Hause ging und wie sehr sie zurück in ihre alten Schulen und zu ihren Schulfreunden möchten. Sie vergleichen ständig viele Dinge in Deutschland mit dem bereits für sie gewohnten Vorgehen in der Ukraine. Sie sprechen häufig über das Essen und vermissen einige traditionell ukrainische Gerichte.

Nach der regulären Schule nehmen ukrainische Flüchtlingskinder noch online am Unterricht ihrer Heimatschulen teil. (Foto: Robert Haas)

Nach dem Unterricht in der deutschen Schule müssen die Kinder schnell nach Hause, da sie am Nachmittag alle noch am Online-Unterricht ihrer ukrainischen Schule teilnehmen - obwohl einige Kinder jetzt schon für sich entschieden haben, unabhängig vom Ausgang des Krieges in Deutschland zu bleiben. Viele haben auch kein Zuhause mehr in der Ukraine. In unserer Mittelschule in Gilching gibt es viele Kinder unterschiedlicher Herkunft. Darunter sind auch einige russischsprachige Kinder, deren Eltern nach Beginn des Krieges aus Russland nach Deutschland übergesiedelt sind. Nur wenige Kinder aus der ukrainischen Brückenklasse unterhalten sich mit ihnen, obwohl sie sich ohne Probleme in russischer Sprache verständigen könnten. Ich kann das verstehen.

Gegen alles Russische entwickelt sich eine Abneigung

Der Grund dafür ist klar: Kinder aus Russland werden sofort als Feinde eingestuft. Überhaupt merke ich, dass sich bei den ukrainischen Kindern eine Ablehnung gegen alles Russische entwickelt. Es entsteht ein richtiger Hass. Und das gerade bei der jungen Generation. Viele verstehen zwar, dass es in jedem Volk gute und schlechte Menschen gibt. Das versuche ich auch als Lehrerin zu vermitteln. Jedoch werden die Grausamkeiten, die durch die russischen Soldaten seit Beginn des Krieges in der Ukraine verursacht wurden, nie vergeben oder vergessen sein.

Täglich bin ich mit dem Auto in München unterwegs - und jedes Mal, wenn ich ein Auto mit ukrainischem Kennzeichen vorbeifahren sehe, freue ich mich über ein Stück Heimat. Zugleich denke ich über die Schicksale der Insassen in diesen Autos nach. Jede Ukrainerin und jeder Ukrainer ist vom Krieg betroffen - die eine mehr, der andere weniger. Alle haben eine Geschichte zu erzählen. Einige sind grausam, andere weniger. Aber in meinen Augen ist alles, was geschieht, grausam.

Im Moment weiß keiner von uns, wie lange der Krieg noch dauern wird. Aber fast jeder, mit dem ich mich unterhalte, plant nach dem Ende des Kriegs in die Ukraine zurückzukehren, um das Land wieder aufzubauen. Und viele freuen sich, dass die Ukraine eine Perspektive in der EU hat, wo sie auch hingehört. Das Land ist sehr europäisch orientiert, die Jugend gebildet. Viele lernen Englisch, um sich in der Welt verständigen zu können.

Meine Heimat hingegen ist hier in Deutschland. Das Land, aus dem ich komme, existiert nicht mehr. Auch sozial habe ich kaum noch einen Bezug zu den Menschen dort. Meine Familie hofft derweil, dass sie bald zurück kann. Zurück in ihre verwundete und geliebte Heimat, die nun enger denn je zusammensteht.

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