Migration:Integration über die Sprache

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Ehrenamtliche in Gauting helfen Migranten-Kindern täglich bei den Hausaufgaben. Den Arbeitskreis Ausländerkinder gibt es bereits seit 50 Jahren. Geleitet wird er von Marijana Pinkert (vorne). (Foto: Franz Xaver Fuchs)

Seit 50 Jahren hilft der Gautinger "Arbeitskreis Ausländerkinder" Heranwachsenden dabei, in der neuen Heimat Fuß zu fassen. Mittlerweile ist das Modell ein Exportschlager.

Von Sabine Bader, Gauting

Zwei sechsjährige Mädchen sind die ersten, die an diesem Mittag im Obergeschoss der Gautinger Grundschule die Tür zur Hausaufgabenbetreuung des Arbeitskreises Ausländerkinder aufstoßen. Sie machen dies jeden Mittag nach der Schule und sie machen es gern. Die Eltern der einen stammen aus der Türkei, die der anderen aus dem Irak. Die Erstklässlerinnen lachen viel. Beide sprechen akzentfrei deutsch. Und das, obwohl in ihren Elternhäusern ausschließlich die jeweiligen Landessprachen gesprochen werden. Heute ist für die Sechsjährigen ohnehin ein guter Tag. Denn sie haben nur ganz wenig auf. Die Hausaufgabenliste der anderen Kinder, die nach und nach eintrudeln, ist hingegen weit länger. Sie nehmen an den Tischen Platz und kramen in ihren Schultaschen.

Marion Otto hilft ehrenamtlich im Arbeitskreis Ausländerkinder mit. Gerade hilft sie der siebenjährigen Fatima bei den Hausaufgaben. (Foto: Franz Xaver Fuchs)
Leiterin Marijana Pinkert liest mit dem achtjährigen Musa. (Foto: Franz Xaver Fuchs)

Seit 50 Jahren gibt es den Arbeitskreis Ausländerkinder - kurz AKAK - jetzt bereits. Es waren die Frauen, die das Defizit damals zuallererst erkannt hatten und sich um die Kinder der türkischen Gastarbeiterfamilien kümmerten. Dann folgten die italienischen Kinder, dann die Flüchtlinge aus dem Jugoslawien-Krieg. 2015 kamen Migranten aus einer Vielzahl von Ländern. Jetzt sind es die Kinder von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine. Ja, die Gautinger Frauen nahmen eine Vorreiterrolle ein. Waren sie doch mit die Ersten, die erkannt hatten, dass Integration nur über die Sprache wirklich gelingen kann. Und dass gerade die Jüngsten der Gesellschaft ihrer Hilfe bedürfen.

Am Anfang gab es nur ein kleines Kellerbüro

Eine, die noch vieles aus den frühen Zeiten des Arbeitskreises weiß, ist Johanna Jonas. Sie hat die Einrichtung 35 Jahre lang geleitet und die unterschiedlichen Angebote aufgebaut. Begonnen hat alles mit Hausaufgabengruppen. "Dann sind wir in die Sprachförderung im Kindergarten eingestiegen", erzählt sie. Hinzu kam dann eine Lehrlingsgruppe, damit die Jugendlichen auch ihren Schulabschluss schaffen. Das Spektrum wurde immer breiter.

Anfangs gab es nur ein kleines Kellerbüro in der Schulstraße. Dort fing man mit der Gruppenarbeit an. Den Vorstand des Arbeitskreises übernimmt seit den Anfängen stets ein evangelischer Pfarrer. Heute ist es Klaus Firnschild-Steuer. Später, nachdem die Lehrer sahen, "was sie an uns haben", so Johanna Jonas, stellten sie dem Verein Räume in den jeweiligen Schulen zur Verfügung. Neben der Sprachförderung spielte für die heute 69-Jährige stets auch der spielerische Aspekt bei der Flüchtlingsarbeit eine wichtige Rolle.

"Mir war auch der Sport und die Bewegung wichtig - und, dass die Kinder kurz eine Pause vor den Hausaufgaben haben und eine Brotzeit machen können", sagt Jonas. Es gab Faschingsfeste und Schlittenfahren sowie Kegeln für die Größeren. Oft konnten die Ehrenamtlichen die Eltern der Kinder und Jugendlichen auch davon überzeugen, dass diese eine Ausbildung machen sollten. "Inzwischen gehen immer mehr auf die Realschule und vereinzelt auch aufs Gymnasium."

Bilder aus früheren Tagen. (Foto: Franz Xaver Fuchs (Repro))

Johanna Jonas' Nachfolge hat 2018 Marijana Pinkert angetreten. Die Grundschullehrerin führt den Verein hauptberuflich auch in pädagogischer Hinsicht. Wenn sie heute die Flüchtlingskinder aus der Ukraine vor sich hat, fühlt sie sich an ihre eigene Anfangszeit in Deutschland erinnert. Pinkert stammt aus Bosnien. Sie war zwölf Jahre alt, als sie 1992 mit ihrer Mutter und den zwei Geschwistern nach Deutschland floh, weil in ihrem Heimatland Krieg herrschte. Die Familie kam bei Verwandten in Stuttgart unter. Hilfsangebote wie das in Gauting gab es in Stuttgart damals nicht. Pinkert hat am eigenen Leib erfahren, wie verloren man sich als Kind in einem fremden Land fühlt.

Eine Dauerbaustelle ist es, genug Ehrenamtliche zu finden

In den ukrainischen Kindern hat sie sich darum oft selbst gesehen. "Man kommt in ein fremdes Land, spricht die Sprache nicht, kennt niemanden, ist einfach aus seinem Alltag gerissen worden." Klar, dass sie jetzt genau wusste, was zu tun war. Gleich im Frühjahr machte sie per Aufruf bekannt, dass man Spielgruppen und Deutschkurse für Ukrainer anbiete. Ganz schnell kamen 40 Kinder zusammen. "Wir hatten Kurse ohne Ende", sagt Pinkert. Dann kamen auch die Erwachsenen. Auch für sie hat der Arbeitskreis Kurse angeboten. Noch jetzt laufen zwei von ihnen.

Die Suche nach Ehrenamtlichen, die Mittags mit den Kindern lernen und üben, ist ein Dauerthema für den Verein. Denn auch durch die Corona-Pandemie sei der Bedarf bei den Kindern enorm groß, da durch die Homeschooling-Zeit große Wissenslücken entstanden seien, sagt Pinkert. Diese versuchen die Ehrenamtlichen in Einzelbetreuung zu schließen. Auch jetzt kommen noch mehr als 40 Kinder täglich. Das Gute: Für die Grundschüler gehört der Besuch der Hausaufgabenbetreuung zum normalen Tagesablauf dazu. Denn die Räumlichkeiten befinden sich ja in der Schule. Pinkert hofft in Sachen Betreuersuche vor allem auf Menschen im Rentenalter. Auch ein Geschäftsführer wird gerade gesucht.

Gauting, Stockdorf und vielleicht auch wieder Starnberg: das Modell ist ein Exportschlager

Die Ehrenamtlichen helfen nicht nur bei den Hausaufgaben. Deutsch gelernt wird auch spielerisch, beispielsweise beim Basteln. Die Kinder, die in Gauting betreut werden, stammen aus den verschiedensten Ländern - darunter Afghanistan, Rumänien, Iran, Türkei, der Kosovo und natürlich die Ukraine. Seine Hausaufgabenhilfe bietet der Arbeitskreis nicht nur in Gauting, sondern auch in Stockdorf an. Derzeit wird laut Pinkert auch darüber nachgedacht, ob man die Starnberger Dependance wieder aufleben lässt, wie vor der Corona-Pandemie.

Während sie auf ihre Eltern warten, die sie abholen, reden die beiden Mädchen über ihre Großeltern, die nicht hier in Deutschland leben und die sie darum selten sehen können. "Manchmal fehlt mir meine Oma so", sagt die eine. Und die andere meint: "Aber mein Opa ist sehr lustig, wenn ich ihn besuchen kann." Marijana Pinkert erzählt, dass viele Ausländerkinder in den Ehrenamtlichen eine Art Ersatz-Großeltern sehen. Wohl mit ein Grund, warum sie gerne in die Hausaufgabenhilfe kommen.

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