Historische Aufarbeitung:Im Visier der Stasi

Lesezeit: 3 min

Der ehemalige Pfarrer Willi Stöhr (Mitte) hat die Stasi-Akte der Evangelischen Akademie ausgewertet - ganz im Interesse von Akademiedirektor Udo Hahn und von Brigitte Grande, der Vorsitzenden des Freundeskreises der Akademie. (Foto: Franz Xaver Fuchs)

Die Spitzel des DDR-Regimes haben auch die Evangelische Akademie in Tutzing ausspioniert. Dabei sind bemerkenswert detaillierte Aufzeichnungen über die als "Feindorganisation" eingestufte Bildungseinrichtung entstanden - allerdings mit manch geografischer Schwäche.

Von Sylvia Böhm-Haimerl, Tutzing

1986 hat die Evangelische Akademie in Tutzing eine Studienreise angeboten zum Thema "Auf den Spuren Theodor Fontanes". Hintergrund war das Werk des Schriftstellers "Wanderungen durch die Mark Brandenburg". Es war eigentlich eine ganz harmlose Studienreise, doch in DDR-Zeiten wussten die Teilnehmer, dass sie von der Stasi überwacht werden.

Wie intensiv die Überwachung war, erfuhr Willi Stöhr erst, als er die mehr als 400 Seiten der Stasi-Akte über die Evangelische Akademie las. Der Pfarrer im Ruhestand hatte damals als Studienleiter an der Evangelischen Akademie die Reise organisiert. Und in dieser Zeit intensivierte die Akademie ihre Kontakte zu kirchlichen Friedensgruppen sowie Bürgerrechtlern in der DDR. "Die Stasi hat die Reisegruppe ununterbrochen fotografiert. Die Beschreibungen gingen bis ins letzte Detail. Und auch der Tagesablauf wurde minutiös beschrieben", erklärte Stöhr im Rahmen seines Vortrags "Unter Beobachtung: Akademiearbeit in den Augen der Stasi" am Mittwoch in der Evangelischen Akademie.

Die damalige Fontane-Reise führte in 19 Städte. Laut Stöhr wurde die Studiengruppe in jeder Stadt von zwei Stasi-Mitarbeitern beobachtet. In der Stasi-Akte war dann der Kommentar nachzulesen, dass keine Kontaktbestrebungen festgestellt worden waren und es auch keine "Absonderungen" von einzelnen Teilnehmern gab. "Man sieht, wie sinnlos diese Details sind", stellte Stöhr rückblickend fest.

In der anschließenden Diskussion mit Mitgliedern des Freundeskreises der Evangelischen Akademie wurde dann auch gleich nachgerechnet, wie hoch der Personalaufwand der Stasi damals war. Nur um diese Nebensächlichkeiten dokumentieren zu können, hätten diese Stasi-Mitarbeiter im wirtschaftlichen Prozess gefehlt, stellte ein Besucher fest.

Willi Stöhr hat 2022 den Antrag gestellt, Einsicht in die Akte der Akademie nehmen zu dürfen. (Foto: Franz Xaver Fuchs)
Die Vorstellung der Ergebnisse interessierte ein großes Publikum. (Foto: Franz Xaver Fuchs)

Weil Stöhr häufig in der DDR war und dort viele Kontakte hatte, hat er 2019 um Einsicht in seine persönliche Stasi-Akte gebeten. Als man ihm mitteilte, dass es über ihn nichts gebe, hat er 2022 zusammen mit der Akademie einen neuen Antrag gestellt, dieses Mal auf Einsicht in die Akte der Tutzinger Einrichtung. Es waren mehr als 400 Seiten voll mit Protokollen und Dossiers.

Über Akademiedirektor Udo Hahn gibt es übrigens auch eine Akte. Er habe in den 1980er-Jahren ein Praktikum in Sachsen gemacht und Treffen zwischen Vertretern der BRD und der DDR organisiert. "Die Stasi hat menschliches Leben stark verändert und beeinträchtigt", erklärte er. Doch nicht nur in der DDR wurden Mitarbeiter der Evangelischen Akademie überwacht, auch in der Einrichtung in Tutzing, beispielsweise, wenn der "Politische Club" tagte. In einem Bericht von 1985 wird die sachliche Atmosphäre auf einer Tagung zum Thema "40 Jahre nach Kriegsende - Ende einer Feindschaft?" gelobt und die Stasi kommt zu der Schlussfolgerung, dass eine Wiedervereinigung nicht denkbar sei.

"Wer sind diese, die mehr Selbstständigkeit wollen?"

Stöhr stellte bei jedem Bericht seine persönlichen Erfahrungen aus der damaligen Zeit den Einträgen in der Stasi-Akte gegenüber und kam zu dem Schluss: "Aus meiner Sicht waren das relativ objektive Berichte. Da muss jemand dabei gewesen sein." Ob die Angaben der Stasi-Mitarbeiter korrekt waren, kann Stöhr insbesondere bei Veranstaltungen beurteilen, die er selbst organisiert hat. Doch er hat auch festgestellt, dass die objektiv verfassten Berichte später nachbearbeitet und mit Randbemerkungen versehen worden sind. Man habe die Berichte abgeklopft, so Stöhr, der die nachträglich angebrachten Notizen "bewertende Einschübe" nennt.

In einem Bericht wird thematisiert, dass es in einigen sozialistischen Staaten Bestrebungen nach mehr Selbstständigkeit gebe, insbesondere in Polen. Hier wurde an den Rand notiert: "Wer sind diese, die mehr Selbstständigkeit wollen?"

In den Unterlagen wird überraschenderweise immer wieder von "Tutzingen" gesprochen. (Foto: Franz Xaver Fuchs)

Andere Tatsachen indes wurden gar nicht in der Stasi-Akte vermerkt, etwa als auf einer Diskussion die Aufrüstung der Sowjetunion kritisiert wurde oder dass die Hoffnung geäußert wurde, dass Michail Gorbatschow an die Macht kommt. Die Verfasser dieser Berichte waren nach Meinung Stöhrs offenbar der Evangelischen Akademie wohl gewogen, wenngleich sie überzeugt gewesen seien, dass die DDR der bessere Staat sei. "Wenn man die Geschichte anschaut, habe ich den Eindruck, die Stasi schützt sich selbst und ihre Machthaber", urteilte der pensionierte Pfarrer. Auffallend ist laut Stöhr, dass immer von der Evangelischen Akademie in "Tutzingen" gesprochen wird und nie von Tutzing. Irritierend sei für ihn gewesen, dass ein auf kariertem Papier handschriftlich detailliert ausgearbeiteter Lageplan der Evangelischen Akademie beigefügt war. "Da ist man doch etwas verblüfft", so der ehemalige Akademie-Mitarbeiter.

Andere Interna der Akademie wurden detailliert weitergegeben, beispielsweise dass sich der damalige Leiter des "Politischen Clubs" angeblich von der Evangelischen Akademie "wegbewegen" wolle. Der Club blieb jedoch letztendlich bei der Akademie.

Die Urteile der Stasi fallen unterschiedlich aus, je nachdem, welcher Mitarbeiter die Berichte verfasst hat. In den 1950er-Jahren wird die Akademie als "Feindorganisation" eingestuft und in den Siebzigern als verlängerter Arm der Nato. Einmal wird erklärt, dass es sich bei der Akademie um keine wissenschaftliche Einrichtung zur Erforschung der Wahrheit handelt, sondern um "Rattenfängerei". Dann wieder heißt es, die Evangelischen Akademien seien gefährlich, sowohl in der BRD, als auch in der DDR. Und es sei schwierig, ihre Arbeit einzudämmen. "Ein besseres Kompliment kann man nicht haben", so der Kommentar des Referenten.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusGastronomie
:Tandoori Chicken statt Cevapcici

Der Inder Jodh Singh übernimmt das Tutzinger Kultrestaurant Filmtaverne. Aus ihm wird das "Taj Mahal". Im April will er eröffnen - mit kreativen Pizzakreationen.

Von Viktoria Spinrad

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: