Corona:Piks mit Perspektive

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Der Gautinger Kinder- und Jugendarzt Heiko Stern impft jetzt schon junge Risikopatienten. (Foto: Arlet Ulfers)

Ärzte impfen Jugendliche, um ihnen die Angst vor der Erkrankung zu nehmen. Die Pandemie hat viele ihrer jungen Patienten in Magersucht und Neurosen getrieben. Fast die Hälfte der Landkreisbürger ist einmal immunisiert

Von Jessica Schober und Christine Setzwein, Starnberg

So gut waren die Zahlen lange nicht: Die Sieben-Tage-Inzidenz im Landkreis Starnberg ist am Donnerstag auf 19,8 gesunken, und die Zahl der Geimpften steigt unaufhörlich. Der Ärztlicher Koordinator Bernhard Junge-Hülsing blickt deshalb zuversichtlich auf den Sommer. 67 268 Personen haben die erste Impfung erhalten, das sind mehr als 49 Prozent der Einwohner, ein wichtiger Meilenstein im Kampf gegen die Corona-Pandemie.

"Wenn die Hälfte der Menschen geimpft ist, dann kann sich das Virus nicht mehr exponentiell vermehren", sagt Junge-Hülsing. Die Ansteckungsgefahr sei nun im Sommer draußen sehr gering. "Das liegt an den exzellenten Impfzahlen, die wir im Landkreis haben, aber auch an den verinnerlichten Schutzmaßnahmen", sagt der Mediziner "Die Leute fallen sich nicht mehr um den Hals und sitzen nicht Schulter an Schulter im Biergarten." Er sei sich sicher, "dass wir bis Oktober Ruhe haben".

Großes Thema auch beim Impfgipfel am Donnerstag war die Immunisierung von Kindern und Jugendlichen. Zwölf- bis 15-Jährige können sich nun vom 7. Juni an um einen Impftermin bemühen. Die Ständige Impfkommission (Stiko) will ihre abschließende Bewertung aber erst in eineinhalb Wochen vorlegen. Junge-Hülsing würde sich wünschen, dass Eltern ihre zwölf- bis 15-jährigen Kinder impfen lassen. "Auch wenn Kinder und Jugendliche kein großes Risiko im Fall einer Erkrankung haben, sind junge Menschen, die sich in einem großen Radius bewegen, auch Pandemietreiber", sagt der Ärztliche Koordinator. Er habe zum Beispiel auch seine 16-jährige Tochter geimpft, die ihm bei den Abstrichen hilft. Eine 17-Jährige habe sich gerade begeistert bei ihm immunisieren lassen, weil sie nach dem Abi nun einen Auslandsaufenthalt plane. Der HNO-Arzt ist sich sicher: "Die Jugendlichen werden sich eher für die Gesellschaft als für ihre eigene Gesundheit impfen lassen." Bei jüngeren Kinder unter zwölf Jahren hingegen müsse genau abgewogen werden. Deshalb wolle er da auch keine Empfehlung abgeben.

Das will auch Heiko Stern nicht. Persönlich ist der Gautinger Kinder- und Jugendarzt der Meinung, dass nur Risikogruppen geimpft werden sollten. "Lieber die Eltern schützen", sagt er. Er habe Fälle in seiner Praxis, wo Kinder ihre Eltern angesteckt haben. Die Keimzahl bei Kindern und Jugendlichen, die sich mit dem Coronavirus infiziert haben, sei durchaus relevant, auch wenn sie selbst kaum Symptome zeigten. "Aber man muss beide Argumentationen respektieren", sagt Stern. Risikopatienten von 16 bis 18 Jahren würden jetzt schon mit dem Biontech-Vakzin geimpft. Was ihn vor allem umtreibe, das seien die hohen Zahlen an psychosomatischen Krankheiten bei Kindern und Jugendlichen durch die Einschränkungen in der Pandemie. "Wir haben eindeutig mehr Fälle von Magersucht, Zwangs- und Angstneurosen", sagt Stern.

Diese Erfahrung macht auch sein Kollege Manfred Praun in Gilching. Spielsucht, Schlafstörungen und Aggressivität stelle er bei seinen jungen Patienten fest, berichtet der Kinder und Jugendarzt. "Deshalb impfen wir jetzt schon ganz viele Jugendliche. Nicht, weil ihr Leben durch das Virus bedroht wäre, sondern weil wir ihnen eine Perspektive für den Sommer geben wollen." Für Praun ist die Impfung auch ein "Schutz vor der Angst vor Erkrankung". Deshalb sei er auch dafür, dass Zwölf- bis 16-Jährige immunisiert würden. Zu einer Empfehlung konnte sich die Stiko bisher nicht durchringen, "aber ich würde sie mir wünschen", sagt Praun. Ohne diese Empfehlung sei eine Impfung von Kindern immer eine Risikoabwägung: "Wer trägt dann die Verantwortung?" Die Kinder- und Jugendärzte "werden im Regen stehen gelassen", kritisiert der Gilchinger.

Auch Landrat Stefan Frey befürwortet die Impfung von Kindern und Jugendlichen, wenn die Stiko sie empfiehlt. Bis dahin freut er sich über die Entwicklung im Landkreis. Bis Juli erwartet er, dass alle Impfwilligen ein Angebot erhalten haben. "Ich bin sehr zuversichtlich." Eine weiteren Schub werde es geben, wenn vom 7. Juni an auch Betriebsärzte immunisieren dürfen. Die Hausärzte impften ohnehin "toll". Für die Patienten kleinerer Praxen, die immer noch nicht geimpft sind, hat er einen Tipp: "Bei größeren Praxen anmelden!"

In den Arztpraxen des Landkreises wurden bislang insgesamt 40 583 Spritzen gesetzt, davon sind 34 929 Erstimpfungen. Im Impfzentrum Gauting mit seinen Außenstellen in Starnberg, Wörthsee, Feldafing und Herrsching waren es 29 257 Erst- und 12 949 Zweitimpfungen. Wöchentlich kommen dort 3500 Impfdosen an, aktuell werden die meisten für Zweitimpfungen verwendet, sagt Landratsamts-Sprecherin Barbara Beck. Wenn es nach Junge-Hülsing geht, sollen nun auch die Impfzentren die Priorisierung für bestimmte Gruppen aufheben können.

© SZ vom 28.05.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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