Politik:"Manchmal ist es schon krass, wie an einem gezerrt wird"

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Rückt in den Vorstand der Fraktion auf: SPD-Bundestagsabgeordnete Carmen Wegge. (Foto: Arlet Ulfers)

Seit einem Jahr arbeitet Carmen Wegge (SPD) als Bundestagsabgeordnete in Berlin. Wer ihr dort zum Vorbild geworden ist, was sie im Job als Mutter einer kleinen Tochter erlebt und welches private Ziel ihr wichtiger ist als die politische Arbeit.

Interview von Carolin Fries, Starnberg

Der Kalender dicht, der Schreibtisch voller Arbeit, die Kita geschlossen und der Ehemann coronakrank im Bett: Carmen Wegge sagt nur: "So ist es eben." Vor wenigen Wochen ist die SPD-Politikerin 33 Jahre alt geworden, vor einem Jahr wurde sie in den Bundestag gewählt, wo sie den Wahlkreis Starnberg-Landsberg-Germering vertritt. Wegge steht für eine junge Generation von Politikerinnen, die "Politik anders transportieren" will, wie sie sagt. Ein Jahr lang hat die Mutter einer bald zwei Jahre alten Tochter deshalb regelmäßig im SZ-Podcast "Von Starnberg nach Berlin" erzählt, was sie als Neuling in der Bundeshauptstadt erlebt. Nun ist Schluss mit der Serie, denn: Wegge ist im politischen Betrieb angekommen. Ein Gespräch über Erfolge und Enttäuschungen - und über persönliche Schutzmechanismen.

SZ: Frau Wegge, Sie sind vor einem Jahr recht euphorisch in den neuen Job gestartet. Haben Sie noch immer Freude an der Arbeit?

Carmen Wegge: Ja, es macht noch immer großen Spaß. Ich habe trotz der schwierigen Umstände das Gefühl, an dem Ort zu sein, an dem ich viel verändern kann.

Welche Schwierigkeiten meinen Sie?

Den Ukrainekrieg und seine Folgen. Da sind wir vor einem Jahr alle sehr motiviert mit einem Koalitionsvertrag in die Legislaturperiode gestartet, agieren seit Kriegsbeginn aber überwiegend außerhalb dessen, was wir uns eigentlich vorgenommen hatten.

Das klingt sehr frustrierend. Ist Politikerin für Sie denn immer noch ein Traumjob? Was hat Ihre Erwartungen enttäuscht, was ist besser als gedacht?

Manchmal habe ich das Gefühl, die Leute meinen, man müsste im Bundestag nur mit den Fingern schnippen und alle Probleme wären gelöst. Dem ist nicht so. Es braucht Mehrheitsentscheidungen und die Prozesse dauern manchmal lange. Da ist die Erwartungshaltung schon sehr hoch, das kann man gar nicht leisten. Aber positiv ist: Alles, was Bürgerinnen und Bürger an mich herantragen, kann ich mitnehmen und in meine Arbeit einfließen lassen.

Sind Sie selbst manchmal frustriert, dass alles immer so lange dauert?

In den Themenbereichen, in denen ich unterwegs bin, läuft alles nach Plan. Da hab' ich die Probleme nicht. In der Gesamtbetrachtung aber ja, da hätte ich mir zum Beispiel schon gewünscht, dass die Gasumlage früher fallen gelassen wird.

Was hat denn funktioniert, worauf sind Sie stolz?

Auf die Streichung des Paragrafen 219a, so dass es Ärztinnen und Ärzten deutlich leichter ist, über Schwangerschaftsabbrüche zu informieren. Für mich als Feministin ist das ein großes Thema der Frauen, da bin ich wirklich stolz drauf, das mitverhandelt zu haben. Mit der Änderung des Schwangerenkonfliktgesetzes ist es außerdem auch nicht möglich, daran auf Landesebene etwas zu ändern. Da haben wir weit mitgedacht.

Wer im Bundestag ist Ihnen zum Vorbild geworden?

Rolf Mützenich, unser Fraktionsvorsitzender. Ein toller Mensch, wertschätzend und tief solidarisch auch bei inhaltlichen Meinungsverschiedenheiten. Da habe ich großen Respekt.

Carmen Wegge vertritt seit 2021 die Landkreise Starnberg, Landsberg am Lech und die Stadt Germering im Deutschen Bundestag. Hier mit Bundeskanzler Olaf Scholz. (Foto: privat)

Wie begegnet man Ihnen als Mutter eines Kleinkindes in diesem Job?

Man begegnet mir mit viel Respekt. Allerdings bleibt meine Tochter auch zu Hause bei ihrem Vater, wenn ich in Berlin bin. Man darf sich nichts vormachen: Dieser Job ist, wenn man sein Kind mit dabei haben muss, nicht kinderfreundlich. Da hat der Bundestag noch einiges zu verbessern. Gut, dass wir da als Elterngruppe innerhalb der SPD-Fraktion eine Initiative gestartet haben, um Hürden abzubauen. Inzwischen gilt ein krankes Kind beispielsweise als Abmeldegrund für eine Sitzung.

Was haben Sie im ersten Jahr im Bundestag gelernt - welche ungeschriebene Regel gebrochen?

Wie bei jeder neuen Aufgabe, die man übernimmt, lernt man zahllose Dinge. Wussten Sie, dass es vorne im Plenum Telefone gibt? Auch wenn das niemand macht, aber man könnte damit doch eine Pizza bestellen. Und wenn Regeln ungeschrieben sind, dann kann man sie auch nicht brechen.

Wie groß ist der lokale Anteil Ihrer Arbeit?

Das macht schon einen guten Teil aus, in den Wahlkreiswochen bin ich ja vor Ort und auch auf Terminen. Und jeder, der mir mailt oder schreibt, bekommt auch eine Antwort. Ich würde sagen, 30 bis 40 Prozent.

Mit welchen Anliegen treten die Menschen aus dem Fünfseenland an Sie heran?

Aktuell geht es viel um die Strom- und Gaspreise und die Sorge, dass Rechnungen nicht bezahlt werden können. Oder aber um das Umrüsten von Holzkohleöfen und fehlende Vorschriften. Außerdem natürlich um die Cannabis-Legalisierung, da schreiben Leute aus ganz Deutschland.

Sie haben kaum Freizeit. Mal Hand auf's Herz: Haben Sie sich das so vorgestellt?

Mir war schon klar, dass das ein 24/7-Job ist. Manchmal ist es schon krass, wie an einem gezerrt wird, weil alle einen Termin wollen. Da braucht man definitiv gute Mechanismen, wie man auf sich aufpasst.

Welche haben Sie?

Ich nehme mir ganz bewusst Zeit für meine Familie. Abends gehe ich nicht vor 20 Uhr auf Veranstaltungen und ich mache auch nicht jeden Abend was. Auch am Wochenende versuche ich mindestens einen Tag frei zu haben. Die meisten Menschen haben dafür auch Verständnis.

Was ist der schönste Teil Ihrer Arbeit?

Da gibt es viele. Aber wenn man bei der dritten Lesung eines neuen Gesetzes aufstehen muss, um zuzustimmen, ist das schon ein sehr schöner Moment. Da verändert man ein Stück weit die Welt.

Wie lange wollen Sie das noch machen?

Mein Ziel ist es, glücklich verheiratet aus dem Bundestag wieder rauszukommen. Das haben bis jetzt nicht so viele geschafft. Daher werde ich auch immer zusammen mit meinem Mann entscheiden, ob ich noch einmal kandidiere oder nicht. Ich werde das aber definitiv nicht für immer machen, sondern will rechtzeitig Platz für junge Menschen und ihre Ideen machen.

Aber noch haben Sie viel vor. Was steht auf Ihrem Zettel ganz oben?

Aktuell steht eine Reform des Waffenrechts an, so dass psychisch kranke Menschen möglichst nicht mehr an Waffen kommen. Außerdem wollen wir Vorschläge gegen die Gehsteigbelästigungen machen, wir wollen also etwas gegen die Protestaktionen von Abtreibungsgegnern vor Beratungsstellen für Schwangere unternehmen. Und natürlich einen Entwurf für die Cannabis-Legalisierung vorlegen, das größte Wirtschaftsprojekt dieser Legislatur. Ich hoffe, dass das nächsten Sommer beschlossen wird und Anfang 2024 die ersten Geschäfte öffnen - auch in Starnberg.

Alle Folgen des Podcasts "Von Starnberg nach Berlin" sind auf der Homepage der Starnberger SZ zu finden.

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