Es ist ungefähr das 30. Hörbuch, für das Stefan Wilkening im Studio war. Er hat Goethe und Schiller, Karl Marx und die Bibel eingelesen und stand schon als Odysseus, Don Quichote und in unzähligen anderen Rollen auf der Bühne. Und doch ist der Schauspieler und Sprecher immer noch zutiefst berührt von Claire Keegans Erzählung "Kleine Dinge wie diese", die er kürzlich für den Bonnevoice-Hörbuchverlag aufgenommen hat: "Man darf ja nicht zu viel verraten", sagt er, "aber für mich ist es eine sehr schöne Weihnachtsgeschichte."
Die irische Autorin Claire Keegan machte nicht nur mit ihrem 2021 erschienenen Buch "Small Things Like These" - auf Deutsch: "Kleine Dinge wie diese" - Furore, das es auf die Shortlist des "Booker Prize" schaffte. Auch ihr zuletzt erschienener Roman "So Late in the Day" wurde bereits ausgezeichnet. Und der melancholisch-schöne Film "The Quiet Girl", der in diesem Sommer auf dem Fünfseen-Filmfestival gefeiert wurde, basiert auf ihrer Erzählung "Foster".
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In "Kleine Dinge wie diese" geht es um sogenannte "Magdalenen-Wäschereien", von Klosterschwestern betriebene Einrichtungen für ledige Mütter und ehemalige Prostituierte. Diese Heime für "gefallene Mädchen" waren jedoch weniger Zufluchtsorte, sondern vielmehr Gefängnisse, deren Insassinnen in den angegliederten Wäschereien unter zum Teil unmenschlichen Bedingungen arbeiten mussten und von den Nonnen gedemütigt wurden. Und so ist es kein Wunder, dass man lange meint, diese Geschichte spiele im 19. Jahrhundert, in der Welt von Charles Dickens. Auch er selbst habe das beim ersten Lesen gedacht, sagt Wilkening.
Tatsächlich gab es jedoch auch im streng katholischen Irland der 1980er Jahre mit seinen extrem konservativen Moralvorstellungen dieses System weiblicher Zwangsarbeit, das von der Gesellschaft nicht in Frage gestellt wurde. Man ließ seine Wäsche im Kloster waschen und wollte gar nicht so genau wissen, was sich dort hinter den Mauern abspielte. Keegans Erzählung spielt in einer irischen Kleinstadt und begleitet den Kohlenhändler Bill Furlong von Ende Oktober, als die Blätter sich gelb färben und die Uhren zurückgestellt werden, bis in den geschäftigen Dezember. Und während sich das Städtchen auf einen kalten Winter einstellt und überall die letzten Vorbereitungen für das Weihnachtsfest im Gange sind, trifft Furlong eine mutige Entscheidung.
Claire Keegan ist eine Meisterin der Verknappung. Sie schafft es, auf nicht mehr als 100 Seiten einen wirklich großen Roman zu schreiben - konzentriert, schlicht und poetisch. Auch in der Übersetzung von Hans-Christian Oeser ist kein Satz, kein Wort überflüssig. Und Stefan Wilkening liest diesen Text ebenso schnörkellos, gleichzeitig aber mit feiner Empathie für seine Figuren. Klug lässt er sich von seinem Rhythmus tragen, der nach und nach sein Tempo erhöht und zuletzt einen ungemein starken Sog entwickelt.
Seit 1994 lebt Wilkening am Starnberger See
"Ich bin selbst ein katholisch sozialisierter Mensch", sagt Wilkening. 1967 in Hatzenport an der Mosel geboren, habe er seine Jugend in den 80er Jahren "mit Teestuben, Schultheater, katholischer Jugendarbeit und Friedensbewegung" verbracht, sagte er vor Jahren mal in einem Interview. Um ein Haar wäre er sogar Pfarrer geworden: Bis zum Vordiplom studierte er Katholische Theologie in Mainz, um dann aber mit 24 Jahren eine Schauspielausbildung an der Münchner Falckenberg-Schule zu beginnen.
Unter Dieter Dorn spielte er in den Kammerspielen und war von 2000 bis 2011 festes Ensemblemitglied des Bayerischen Staatsschauspiels. Neben seinen Engagements für Theater und Fernsehen bildet die Tätigkeit als Sprecher für Hörfunk- und Hörbuchproduktionen einen Schwerpunkt seiner Arbeit. Vor allem aber ist er bekannt für seine musikalisch-literarischen Programme, unter anderem tritt er mit Corinna Harfouch und den Berliner Philharmonikern sowie bei der Salzburger Mozartwoche auf.
Seit 1994 lebt Wilkening am Starnberger See, zuletzt in Percha und seit einigen Monaten im Berger Ortsteil Aufkirchen. "Ich genieße es sehr, von hier oben in die Berge und auf die bayerische Weite zu blicken", sagt er. Nach wie vor engagiert er sich ehrenamtlich für die Kirchengemeinde in Percha. Und seit er nur ein paar Schritte vom "Kloster der Unbeschuhten Karmelitinnen" entfernt wohnt, hat er dort auch eine spirituelle Heimat gefunden: Wann immer er Zeit hat, besucht er die Frühmesse in der Klosterkapelle.