Stadtteilgeschichte:Mit Dampfkraft voran

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Das Haidhausen-Museum erinnert an die Entstehung des Ostbahnhofs und des Franzosenviertels im Zuge der Industrialisierung vor 150 Jahren.

Von Patrik Stäbler, Haidhausen

Die zwei Geburtstagskinder, die demnächst ihr 150-jähriges Bestehen feiern, haben Zeit ihres Lebens Seit' an Seit' im Stadtteil Haidhausen verbracht - und dabei eine höchst unterschiedliche Entwicklung genommen. Da ist zum einen das Franzosenviertel, so genannt, "weil die grindigen Hauskasernen der Gründerzeit mit den Namen der siegreichen Schlachten des Krieges 1870/71 beehrt worden waren", wie es der Schauspieler Rudolf Fernau einmal bissig formuliert hat, der selbst in der Metzstraße aufgewachsen ist. Das ärmliche Glasscherbenviertel von einst ist heute eine der begehrtesten Wohnlagen der Stadt - mit Immobilienpreisen, die sogar für München mitunter unverschämt wirken.

Eine komplett gegensätzliche Entwicklung, zum anderen Jubilar, hat derweil der Ostbahnhof hinter sich. Er wurde 1871 nach den Plänen des Hauptbahnhof-Architekten Friedrich Bürklein als "Braunauer Bahnhof in der Vorstadt Haidhausen" eröffnet und war seinerzeit ein schmuckes Bauwerk der Neorenaissance mit eleganten Gusseisensäulen im Innern, Rundbögen am Eingang und einem prächtigen Brunnen auf dem Vorplatz, der inzwischen auf dem Weißenburger Platz steht. Eineinhalb Jahrhunderte, schwere Bombenangriffe und einen Neubau in den 1980er-Jahren später spielt der Ostbahnhof, will man es sportlich ausdrücken, mittlerweile in der Champions League der drögesten Bahnhofsgebäude Europas.

Der Weißenburger Platz um 1905. (Foto: Georg Pettendorfer/ Stadtarchiv München; Haidhausen Museum/oh)

"Das ist ein Unterschied wie Tag und Nacht", sagt Hermann Wilhelm und zeigt zum Beweis auf eine Aufnahme des ursprünglichen Ostbahnhofs, die hier in seinem Haidhausen-Museum hängt. Das Foto gehört zur Ausstellung "Haidhausen vor 150 Jahren", die am Sonntag eröffnet wird. Oder genauer gesagt: Ihr erster Teil wird eröffnet, der sich mit den Geburtstagskindern beschäftigt - dem Ostbahnhof und dem Franzosenviertel. Die Schau ist bis 27. Dezember zu sehen. Im Anschluss daran folgt von Ende Januar bis 25. April der zweite Teil rund um den Deutsch-Französischen Krieg 1870/71, die Haidhauser Kulturschaffenden zu jener Zeit und den Bau des Friedensengels. Zu alledem hat der Museumsleiter und Heimatforscher Hermann Wilhelm ein Buch geschrieben, das bei der Eröffnung am Sonntag erstmals verkauft wird.

Das Werk kommt mit mehr als 200 Abbildungen daher, von denen einige auch in der Ausstellung zu sehen sind. Den Auftakt macht im Parterre, wo es um den Ostbahnhof geht, jedoch ein Exponat aus Wilhelms Familienfundus: eine kleine Dampfmaschine aus den 1870er-Jahren, die einst seinem Urgroßvater gehörte und - kaum sind Wasser und Brennspiritus eingefüllt - unter anderem ein Windrad und ein Wasserwerk antreibt.

Die Dampfmaschine, deren Prinzip ja auch den ersten Eisenbahnen zugrunde lag, steht stellvertretend für die Industrialisierung, die das Leben in München in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verändert. Gerade der Osten der Stadt erlebt damals einen wirtschaftlichen Aufschwung, Fabriken und Manufakturen siedeln sich an, dazu kommt eine große Eisengießerei. Im Zuge dieser Entwicklung plant die Ostbahn-Aktiengesellschaft, 1856 von reichen Bankiers gegründet, den Bau eines Bahnhofs im kurz zuvor eingemeindeten Haidhausen. Die dortigen Geschäftsleute und Wirte plädieren für einen Standort nahe der Rosenheimer und Inneren Wiener Straße. Doch stattdessen entscheidet sich die Generaldirektion für einen Bahnhof auf der grünen Wiese - so wie es Carl von Eichthal vorgeschlagen hat, einer der Ostbahn-Gründer.

Strippenzieher: Der Hofbankier Carl von Eichthal profitierte enorm vom Bau des Franzosenviertels, er hatte frühzeitig Grundstücke gekauft. (Foto: Georg Pettendorfer/ Stadtarchiv München; Haidhausen Museum/oh)

Der königlich-bayerische Hofbankier hat dabei schon seine Pläne für ein Neubauviertel im Hinterkopf, dessen Entstehung die Ausstellung im Keller des Museums beleuchtet. Infolge des wirtschaftlichen Aufschwungs seien Menschen aus halb Bayern in den Münchner Osten geströmt, um dort Arbeit zu finden, erzählt Wilhelm. Sie brauchen ein Dach über dem Kopf, und das wiederum spielt von Eichthal in die Karten. Der schwerreiche Bankier hat von 1868 an Äcker zwischen dem damals noch dörflichen Haidhausen und den geplanten Bahnlinien aufgekauft. Von 1871 an entsteht dort ein von Arnold Zenetti geplantes neues Stadtviertel, geometrisch angeordnet, mit Plätzen und Straßen, die später - "die Leute waren ja begeistert vom Krieg", so Wilhelm - nach den Orten entscheidender Schlachten benannt werden, von der Balan- über die Sedanstraße bis hin zum Orleansplatz.

Schon bald wird das neue Viertel daher Franzosenviertel genannt; es ist eine der ersten Reißbrettsiedlungen in München. In die dortigen Häuser, "die nicht die beste Qualität hatten", wie es Wilhelm freundlich ausdrückt, ziehen vor allem Arbeiter und Handwerker. Binnen weniger Jahrzehnte schnellt die Einwohnerzahl Haidhausens von etwa 10 000 auf fast 50 000 in die Höhe. Die Ausstellung wolle vor allem den rasanten Wandel widerspiegeln, der mit dieser Entwicklung einhergegangen sei, sagt Wilhelm, der inzwischen bei einer Aufnahme der Postwiese aus den 1930er-Jahren angelangt ist, auf der Dutzende spielende Kinder zu sehen sind. "Sie soll zeigen, wie der technologische und wirtschaftliche Fortschritt das ganze Viertel verändert hat - von einer dörflich geprägten Vorstadt hin zu einem Münchner Stadtteil."

Die Ausstellung "Haidhausen vor 150 Jahren: Der Bau des Ostbahnhofs und das Franzosenviertel" wird am Sonntag, 30. August, um 14 Uhr im Haidhausen-Museum eröffnet, Kirchenstraße 24. In der Folge ist sie zu den Öffnungszeiten des Hauses zu sehen - montags, dienstags und mittwochs von 17 bis 19 Uhr sowie sonntags von 14 bis 17 Uhr.

© SZ vom 29.08.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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