Wintersport:Frieden finden

Lesezeit: 3 min

Die Münchnerin Silvia Mittermüller fuhr lange Zeit Snowboard als professionelle Nomadin, vom Verband wurde sie nicht gefördert. Bei der WM ist das nun anders - diese soll eine Etappe Richtung Olympia sein, dem letzten Puzzlestück ihrer Karriere.

Von Johannes Knuth, München

Der erste Tag in ihrem neuen Snowboarderleben begann so, wie die meisten Tage in ihrem alten, erinnert sich Silvia Mittermüller. "Irgendwie absurd."

Mittermüller bereitete sich im vergangenen Oktober in Saas-Fee auf die Saison vor, mit Bundestrainer, Teamkollegen, einem Verband, der ihr die Kosten auslegte. Lauter Privilegien, die sie sich nach Jahren als freischaffende Freestyle-Snowboarderin erarbeitet hatte. Oder wie Mittermüller sagt: "Das war der erste Tag nach einer ewigen Achterbahnfahrt, an dem ich mich mal nicht stressen musste, wo ich heute Nacht schlafe, wie ich alles bezahlen soll." Und dann? Stresste sie sich doch. "Mach was draus", schwor sie sich. Sprang zu weit. Verletzte sich, Meniskusschaden im Knie, mehrere Wochen Pause. Und als ein Fahrer sie vor einem Monat umfuhr, Mittermüller auf das just genesene rechte Knie stürzte, lag sie im Schnee und dachte: Das war's wohl, endgültig.

Silvia Mittermüller, 33, aus München, hat dann aber auch diese Verletzung abgeschüttelt, eine Muskelquetschung. Sie wird von diesem Donnerstag an bei der Snowboard-WM in der Sierra Nevada starten; im Big Air, einem Sprung über einen großen Kicker, und im Slopestyle, wo sich die Fahrer durch einen Parcours mit Sprüngen und Hindernissen schlängeln. Mittermüller ist seit Jahren die beste deutsche Freestyle-Snowboarderin, aber für die WM hat sie ihre Erwartungen etwas gedimmt, nach den Verletzungen. Es ist ohnehin eine Etappe auf dem Weg zum großen Reiseziel, Olympia 2018 in Südkorea. "Das ist die Möglichkeit, das letzte Puzzlestück im globalen Snowboarden noch mitzunehmen", sagt Mittermüller. Bei Olympia war sie noch nie. Und überhaupt: "Es ist ein Frieden finden, nach vielen langen Jahren als wilde Einzelnomadin."

Snowboarden, das muss man wissen, ist seit einer Weile in zwei Welten zerfallen. Auf der einen Seite jene, die das Feld der olympischen Planwirtschaft bestellen, mit Kadern, Trainern, Medaillen. Und auf der anderen Seite die Fahrer im Garten der freien Wirtschaft, die Wettkämpfe jenseits der Weltcups bevorzugen, Filme drehen, Sponsoren akquirieren, nicht immer viel übrig haben für den durchchoreografierten Leistungsbetrieb. Mittermüller schlug sich lange zwischen den Welten durch, mal mit, mal ohne Snowboard Germany, den Verband, der in Deutschland lange die Alpinboarder bevorzugt förderte; dort gewannen sie ja die Medaillen.

"Es ist einfach schön, das Leben auszutricksen", sagt Mittermüller. Ein Gefühl aus ihrer wilderen Zeit

Mittermüller zog also als "professionelle Nomadin" durch ihren Sport. Als sie in einer Hotel-Lobby in den USA mal Klavier spielte, lernte sie eine Familie kennen, die ihr eine Bleibe in einem Skigebiet vermittelte. Zur Gondel radelte sie mit dem Fahrrad, das Snowboard unter dem Arm. Im schönen wie schön teuren Breckenridge, Colorado, fiel ihr der Saisonpass gratis zu, weil sie ins offizielle Team des Skigebiets rutschte. "Sie kennt so ziemlich jeden, der mit Snowboard was zu tun hat", sagt Maximilian Preissinger, ihr Kollege in der Nationalmannschaft. "Sauhart" sei dieses Leben oft gewesen, sagt Mittermüller, aber ab und zu gewann sie was, Silber vor zwölf Jahren bei den X-Games, der amerikanischen Trendsportmesse. Und was ihr viel mehr bedeutete: Dieses Gefühl der Verbundenheit, wenn es egal war, ob einer im Park Neuseeländer, Finne oder Deutscher war.

"Das war ne ganz andere Welt", erinnert sich Mittermüller, "da ging es mehr darum, den Sport zu pushen, nach dem Motto: Boah, der hat gerade diesen Trick gezeigt, das gab's noch nie! Hey, trinken wir ein Bier auf deinen Trick!"

Mittermüller hat freilich bemerkt, dass sich diese Welt wandelt. Die Winter werden kürzer, die Firmen haben es schwerer, unterstützen weniger Athleten. Mittermüller verletzte sich auch oft, sie hat allein drei Kreuzbandrisse hinter sich, vor Olympia 2014 riss die Achillessehne. Ihr Sponsoren-Budget schmolz auf einen vierstelligen Betrag fürs Jahr. Sie wandte sich wieder an den Verband. Und dann, erinnert sie sich, "haben sich die Dinge irgendwie gefügt" in ihrem neuen Snowboarderleben. Sie gewann im vergangenen Winter einen Slopestyle-Weltcup, als erste Deutsche. Der Verband zog ein Fördersystem um sie hoch, engagierte einen Bundestrainer, den Slowenen Luka Gartner, finanzierte Reisen zu den Weltcups. Wobei es Mittermüller mindestens genauso wichtig ist, dass auch andere von der neuen Förderung profitieren, Preissinger oder Nadja Fleming, "das Mittelfeld an fähigen Snowboardern, die sich sonst selbst durchbeißen müssten", sagt sie. Und nun vielleicht schneller "die Fackel übernehmen", ihre Fackel.

Olympia, sagt Mittermüller, "wäre ein schöner Endakkord, um dann ein bisschen langsamer zu machen". Die Qualifikation wird zäh, seit diesem Winter zählen Punkte aus allen Weltcups, die sie bislang alle verpasst hat. Die Verletzungen. Ein bisschen fremdelt sie noch in dieser "nationengetriebenen und entwickelten" Snowboard-Welt. "Man wird etwas gezähmt", sagt sie, Training, Kader, Deadlines. Aber um bei den Besten dabei zu sein, sei "nicht nur dieser Robotergeist notwendig", sondern etwas, das sie aus ihrer wilderen Zeit mitbringt: "Das Selbstbewusstsein, dich in einer Sekunde, in der du dich bei einem Sprung theoretisch umbringen könntest, mit einem Grinsen nicht umzubringen - und es dann noch mal zu machen, weil es einfach schön ist, das Leben auszutricksen." Nach diesem Gefühl wird sie sowieso weiter fahnden, auch nach Olympia. "Kann sein, dass ich mit 50 in Breckenridge über sulzige Sprünge hüpfe", sagt Mittermüller, "mit 'nem riesigen Grinsen im Gesicht." Weil sie die Schwerkraft mal wieder ausgetrickst hat.

© SZ vom 09.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: