Leichtathletik:Familientage in Vaterstetten

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Die deutschen Mehrkampfmeisterschaften sind für die Veranstalter in diesem Jahr eine organisatorische Herausforderung. Die Athleten sind dankbar, dass sich ihnen überhaupt noch eine Wettkampfbühne bietet.

Von Johannes Knuth, Vaterstetten

Die Leichtathletik als Hörspiel? Klappt auch überraschend gut. Ein Nebeneffekt der sogenannten Geisterwettkämpfe in Corona-Zeiten ist ja, dass die Emotionen der Athleten noch ungefilterter als bislang zu vernehmen sind, wobei es am Wochenende, bei den nationalen Mehrkampfmeisterschaften in Vaterstetten, selbst für die Leichtathletik zu einem Hörerlebnis der besonderen Art kam: Einerseits lärmten die Anwesenden, die Einlass ins Sportzentrum gefunden hatten, schon wieder so veritabel, dass man sich fast an urzeitliche Sportfestzeiten erinnert fühlte; andererseits taten sie etwas Unerhörtes für eine Leichtathletikaudienz: Sie pfiffen.

Anlass war das Verdikt des Kampfgerichts, den Ulmer Zehnkämpfer Mathias Brugger zu disqualifizieren, bevor der seinen Zehnkampf überhaupt aufgenommen hatte, über die 100 Meter. Die Technik war allerdings unerbittlich: Löst ein Athlet sich früher als 100 Millisekunden nach dem Startschuss aus dem Block, wird ihm Unredlichkeit unterstellt, ein Frühstart. Brugger? Hatte sich eine Hundertstelsekunde zu früh bewegt. Sämtliche Gnadengesuche des Bundestrainers beim Kampfgericht verpufften, wie auch spätere, biomechanische Sichtungen des Bildmaterials. Frühstart ist Frühstart, auch wenn er sich um eine mickrige Hundertstel ereignet und von einem ehemaligen WM-Dritten in der Halle verursacht wird. Brugger erhielt für die 100 Meter keine Punkte gutgeschrieben, und weil der turbulente Auftakt sehr an der Konzentration genagt hatte, steckte er nach dem Kugelstoßen auf. Veranstalter und ZDF, das am Wochenende lange aus Vaterstetten übertrug, waren früh eines ihrer wenigen Werbegesichter beraubt.

Serina Riedel vom TSV Zeulenroda gewann den Wettbewerb der U18 mit einer neuen deutschen Siebenkampfbestleistung. (Foto: KJPeters/imago images/Beautiful Sports)

Dass die dreitägige Veranstaltung letztlich ein versöhnliches Ende nahm, lag zum einem am Nachwuchs, der ohnehin für gewöhnlich die deutschen Mehrkampfmeisterschaften prägt, die meist im Schatten der Großereignisse stattfinden. Serina Riedel vom TSV Zeulenroda verbesserte sogar den 21 Jahre alten deutschen Jugendrekord im Siebenkampf, auf 5818 Punkte. Zum anderen präsentierte sich die andere Hauptdarstellerin in Vaterstetten sehr achtbar im Angesicht dieser zerfurchten Saison: Carolin Schäfer, die WM-Zweite und EM-Dritte von der LG Eintracht Frankfurt, sicherte sich mit 6319 Punkten ihren zweiten nationalen Titel nach 2013, den sie in Ermangelung von internationalen Großereignissen gerne mitnahm: "In diesem Jahr ist es der höchste Titel, den ich erreichen kann, von daher hat er einen sehr hohen Stellenwert." Gerhard Neubauer, der Münchner Präsident des ausrichtenden Bayerischen Leichtathletik-Verbandes (BLV), durfte also mit Recht behaupten, dass sich sein Hauptanliegen erfüllt hatte: Nachwuchs- wie Elitekräfte hatten eine seltene Bühne erhalten, "ansonsten wäre das ein echter Schritt zurück gewesen", sagte Neubauer. Da störte am Ende auch Mathias Bruggers kleine Reminiszenz an Jürgen Hingsen nicht. Der hatte bei Olympia 1988 über 100 Meter sogar drei Fehlstarts verursacht.

Vor ein paar Monaten hätten wohl nicht viele in der Szene darauf gewettet, dass es noch so weit kommen würde. Mehrkampfmeisterschaften sind schon unter gewöhnlichen Umständen ein gewaltiges Unterfangen, Nachwuchs und Erwachsene benötigen über drei Tage diverse Wurf-, Stoß- und Sprunganlagen, die öffentliche Aufmerksamkeit ist eher gering, der finanzielle Ertrag ebenfalls. In Corona-Zeiten, mit Hygieneprotokollen und Restriktionen, werden derartige Projekte nicht einfacher. Hinzu kam, dass der TSV Vaterstetten sich im Frühjahr noch einen neuen Vorstand sowie einen neuen Leichtathletik-Abteilungsleiter spendierte - unter diesen Umständen gab der Verein die Meisterschaften an den BLV zuletzt wieder zurück.

Zehnkampf-Favorit Mathias Brugger (SSV Ulm 1846) musste sich nach seiner Fehlstart-Disqualifikation über 100 Meter fragen lassen: Wie konnte das passieren? (Foto: Flatemersch-Luex/imago images/Beautiful Sports)

Während landesweit immer mehr Meisterschaften ausfielen, wollte der BLV zumindest die zuletzt oft starken deutschen Mehrkämpfer nicht enttäuschen. Möglich gemacht habe das ein gemeinschaftlicher Ansatz, betonte Neubauer am Wochenende: Sein BLV tat sich mit dem deutschen Verband und der Gemeinde Vaterstetten zusammen, der TSV und umliegende Vereine stellten weiter Kampfrichter, Helfer und Ausrüstung wie zusätzliche Stabhochsprunganlagen. Zuschauer waren nicht zugelassen, jenseits der Bahn galten Abstands- und Maskenpflicht, wobei sich Athleten und Betreuer auf der großen Anlage besser verteilten als zuletzt bei den Einzelmeisterschaften in Braunschweig.

Die Athleten waren jedenfalls dankbar für die seltene Wettkampfgelegenheit - ob sie nun einen kurzen Einlage-Dreikampf bestritten wie der einstige WM-Dritte Kai Kazmirek, die Gunst der Stunde nutzten wie Malik Diakité, 20, von Hannover 96, der mit 7641 Punkten den Männer-Zehnkampf gewann, oder das Wochenende, wie Schäfer, zur Standortbestimmung nutzten. Nationale Meisterschaften sind ja oft eine Austauschbörse von Erfahrenen und zweiter bis dritter Reihe; aus der Region beendeten Julia und Ramona Schneider (TSV Schleißheim) ihren Siebenkampf mit 4808 bzw. 4407 Punkten, Sebastian Kottmann (LG Stadtwerke) wurde im Zehnkampf der U18 Elfter, mit 6318 Punkten. Arrivierte wie Carolin Schäfer, 28, verstanden sich in Vaterstetten also auch ein wenig als Ausbildungsbeauftragte: "Ich finde es schön, wenn die Jüngeren auf mich zukommen", sagte sie: "Auch unter dem Gesichtspunkt war es ein schöner Wettkampf."

© SZ vom 24.08.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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