Fußball:Stadelheimspiel

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Fußball hinter Stacheldraht - da blüht der schwarze Humor. Steht die Mauer richtig? Und wenn ein Ball drüber fliegt - wer holt den jetzt? Szene vom 1860-Besuch in der JVA Stadelheim. (Foto: privat/oh)

Die U21 des TSV 1860 München spielt hinter Gittern gegen eine Gefangenen-Auswahl. Ergebnis: Ein Moment des Aufatmens für die Häftlinge - und ein Lerneffekt bei den jungen Fußballern.

Von Christoph Leischwitz

57, 58, 59... das darf nicht wahr sein, der 1860-Mannschaftsbus hält tatsächlich vor der "60". In der Justizvollzugsanstalt Stadelheim (JVA) handelt es sich freilich nicht um ein Banner im Fanblock, sondern um Ziffern an der Fassade, die den Vollzugsbeamten bei der Orientierung helfen. Später dröhnt aus einem der vergitterten Fenster über den Ziffern "The Wall" von Pink Floyd, das hier drinnen noch einmal ganz anders klingt als draußen. Ganz banale Dinge haben hier oft eine ganz andere Bedeutung. Ein Fußballspiel zum Beispiel.

Der Besuch der U21 von 1860 München ist Teil eines informellen Sozialprojekts. Vor drei Jahren war auch schon der heutige Cheftrainer Daniel Bierofka mit dem Nachwuchsteam auf Kurzbesuch in Stadelheim, das keine zehn Minuten Busfahrt vom Vereinsgelände entfernt liegt. Auf die Idee gekommen waren der U-21-Organisator der Sechziger, Hans Jauernig, und ein Sechzig-Fan, der einst in Stadelheim arbeitete. Die Besuche seien auf mehreren Ebenen hilfreich, sagt JVA-Leiter Michael Stumpf, der sich am vergangenen Dienstag unter die Zuschauer mischte. Sportveranstaltungen und die Vorbereitung darauf würden den Insassen helfen zu lernen, Regeln besser einzuhalten, und lieferten nach der Haft einen Anreiz, "in einen Verein zu gehen und nicht einfach auf der Straße zu sitzen". Am Spieltag selbst hätten sie darüber hinaus das Gefühl, "dass sich jemand mit ihnen befasst."

Die Mannschaft des FC Stadelheim ist im Schnitt etwa so alt wie jene der Sechziger. Bei den meisten Spielern handelt es sich um junge Untersuchungshäftlinge, die im Schnitt nur wenige Monate in Stadelheim sind. Sport getrieben wird zwar fast jeden Tag, ein richtiges Mannschaftstraining als Vorbereitung auf das große Spiel gab es allerdings nur zweimal.

Die Mannschaften wärmen sich auf, die Atmosphäre ist locker, freundlich. Auf zwei Seiten ist das Spielfeld eingegrenzt von hohen Mauern, umkränzt mit Stacheldraht, wenige Meter hinter einer Eckfahne steht ein Wachturm. Beim Schusstraining kurz vor dem Anpfiff fliegt ein Ball über die Mauer und landet auf dem angrenzenden Friedhof. Natürlich macht sich unter den Jugendlichen schwarzer Humor breit. In diesem Moment ist ja nur die Frage, ob einer den Witz auch ausspricht: Und wer holt den jetzt?

Da kommen die Fans um die Ecke, begleitet von Justizbeamten. Ein bisschen sieht das aus wie bei einem so genannten Sicherheitsspiel in einer Amateurliga, wo es vorkommt, dass Anhänger von auswärtigen Teams von Polizisten zu Fuß ins Stadion begleitet werden. Abzüglich der Betreuer und Vertreter von 1860 kommen rund 70 Zuschauer zum Anfeuern. Schiedsrichter ist Sebastian Weber vom Nachwuchs-Leistungszentrum der Sechziger. Er verbringt einen recht ruhigen Mittag. "Ich glaube, manche Spieler waren positiv überrascht, wie freundlich die waren", sagt Sechzigs U21-Trainer Sebastian Lubojanski. Fouls gibt es meist nur, wenn das Timing beim Tackling nicht stimmt, aber nie aus Boshaftigkeit. Und wenn, ist sofort eine Hand da, die aufhilft und entschuldigend abklatscht. Auch der Umgang der "Fans" mit den betreuenden Beamten ist ungezwungen und respektvoll.

Lubojanski ist einerseits ein bisschen enttäuscht vom Auftritt seiner Mannschaft, zur Pause führen die Löwen gerade einmal 1:0. Der Gegner ist freilich hoch motiviert und läuft viel. Ein bisschen, glaubt Lubojanski, habe es aber auch in seinen Spielern gearbeitet: "Sie hatten Berührungsangst und Respekt vor der Situation. Das hat man schon in der Kabine gemerkt." Für sein Team sei das Spiel schon eine ernst zu nehmende Trainingseinheit gewesen. Aber: "Der Fokus liegt klar darauf, Menschen, die geläutert sind, eine Möglichkeit zu geben, respektvoll Sport zu treiben und an der Gesellschaft teilzuhaben", sagt Lubojanski. Und seine Spieler würden bei so einem Besuch jede Menge über das Leben lernen.

Frühere Gastspiele waren weniger freundschaftlich ausgegangen. 20:3 lautete das Ergebnis mal, vor zwei Jahren stand am Ende ein 9:1. 1860-Torwart György Szekely steht zu Beginn auffällig weit vor seinem Tor, vor dem Strafraum sogar. Eine Einladung? Der Heber-Versuch des Spielers mit der Nummer zehn geht weit am Tor vorbei, trotzdem gibt es Applaus von der Seitenlinie, wo die Mithäftlinge auf dem Rasen sitzen. Gegen Ende kommen plötzlich mehrere Spieler aus dem JVA-Team frei zum Schuss, Sechzig-Coach Lubojanski nimmt es schweigend hin. Zwei Tore schießt der FC Stadelheim noch, am Ende steht es 2:5 aus Sicht der Gefangenen. Sie wissen nicht, dass die U21 der Löwen drei Tage vorher beim TSV Nördlingen ihr Bayernliga-Spiel 8:0 gewonnen hat. Sie sind einfach stolz.

"Und wie", sagt die Nummer zehn. Es sei schon sehr anstrengend gewesen, obwohl die Spielzeit auf zweimal 35 Minuten festgelegt war. Der Spielmacher hat ganz offensichtlich schon einmal in einem Verein gespielt. Eine schwere Verletzung habe ihn dann gezwungen aufzuhören. Damals habe er sehr zugenommen und irgendwann eben auch begonnen, "Quatsch" zu machen. Ein Justizvollzugsbeamter, der das Spiel betreut, sagt, es sei schön mit anzusehen, wie manche in der Haft wieder aufblühten. Der Sport sei oft ein wichtiger Teil auf dem Weg zurück in ein bürgerliches Leben.

Noch so ein Unterschied, je nachdem, auf welcher Seite der Mauer man steht: In Stadelheim gibt es Menschen, für die ist Fußball für kurze Zeit die wichtigste Hauptsache der Welt. Später, auf einer Führung durch verschiedene Stationen der Anstalt, wird eine Sozialpädagogin sagen: "Wenn Sie jemanden kennen, der in Haft ist, und Sie wollen ihm einen Gefallen tun: Schreiben Sie ihm ganz einfach eine Postkarte. Sie haben keine Ahnung, wie sehr das die Häftlinge freut."

Nach dem Duschen geht es zu Fuß in Trainingsanzügen über das 14 Hektar große Gelände, die Sonne scheint. In Freiheit wäre das ein schöner Spaziergang an einem Frühherbsttag. Aus irgendeinem Fenster ruft jemand: "Seeeechzig!", dann geht es hinein in den Zellenblock. Die U21 sieht, wie die Häftlinge ihren Alltag hinter den Stahltüren verbringen. Einiges davon entspricht den Klischees, wie man sie aus Filmen kennt. Harte Jungs, die im Innenhof Liegestütze machen, einen Mithäftling als Zusatzgewicht auf dem Rücken. Oder Striche an den Zellenwänden, für jeden abgesessenen Tag einer. Anderes ist überraschend. Dass die meisten Ausbruchsversuche aus purer Langeweile getätigt werden. Oder dass ein Fluchtversuch an sich gar nicht strafbar ist (nur die Sachbeschädigung wird geahndet). Dass die Jugendlichen, die hier inhaftiert sind, sich gar nicht so sehr nach ihren Handys sehnen. Sondern viel mehr nach einer Umarmung ihrer Mutter. Die lustigen Sprüche in der Gruppe werden weniger.

Nach viereinhalb Stunden in der geografisch so nahen, aber in Wahrheit doch so fernen Welt ist es auf der Rückfahrt an die Grünwalder Straße recht ruhig im 1860-Mannschaftsbus. An diesem Wochenende ist die U21 spielfrei. Die Analyse des Spiels vom Dienstagmittag, mitsamt seiner Nachspielzeit, dürfte noch etwas Zeit in Anspruch nehmen.

© SZ vom 29.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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