Fußball:Ein Drama über mehr als 90 Minuten

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Aus Nigeria über Warschau und Nandlstadt zum SE Freising: Für James Joseph (links im Testspiel gegen den TSV 1860 München) ist Fußball mehr als ein Spiel. Er hilft ihm, seine Vergangenheit zu bewältigen. (Foto: Marco Einfeldt)

Monatelang war der Nigerianer James Joseph auf der Flucht, lebte auf der Straße, bettelte. In Freising erlebt er Fußball als Freiheit.

Von Sebastian Leisgang, Freising

Für einen Moment ist James Joseph überfordert. Wie heißt das gleich noch mal? Joseph blickt fragend drein, dann sagt er: "Apfel!" Georg Appel springt ihm zur Seite und gibt die Bestellung für Joseph auf. "Eine Apfelschorle!", sagt der Abteilungsleiter des Sportclubs Eintracht Freising. Für eine Goaßmaß, ein Gemisch aus Cola, dunklem Bier und Kirschlikör, wie man es hier in Freising gerne trinkt, ist nicht die Zeit an diesem verregneten Juliabend unter der Woche. Grundsätzlich mag Joseph aber auch Goaßmaß: "It's very sweet", sagt er und lacht.

Zu Hause werden Christen wie Joseph verfolgt. In Attenkirchen fand er Zuflucht im Pfarrheim

Joseph, grauer Kapuzenpulli, rosa Mütze, sitzt nach einer Trainingseinheit im Freisinger Sportheim und erzählt seine Geschichte. Es ist eine bewegende Geschichte, die Züge eines Dramas trägt. Sie handelt von einer Flucht nach Polen, von einer Zeit auf der Straße, von einem Leben zwischen Hunger und ungewissen Hoffnungen. Und von Fußball. Noch steht nicht fest, ob diese Geschichte ein gutes Ende nimmt. Oder ob Joseph in sein altes Leben nach Nigeria zurückkehren muss. Zurück an jenen Konfliktherd, der ihn einst in die Flucht trieb.

Die politische Gemengelage in Nigeria ist explosiv. Die Kriminalität grassiert, Christen wie Joseph werden verfolgt, Terrorbanden treiben ihr Unwesen. "Ich hatte Angst zu sterben", erzählt der 21-Jährige. Er sei jung und könne aus seinem Leben noch etwas machen, habe ihm sein Vater gesagt, ehe er Kontakt zu einem sinistren Mann aufnahm, der ihm versprach, seinem Sohn in Europa ein besseres Leben zu verschaffen. Der Vater verschacherte ein paar Grundstücke und kratzte so genug Scheine zusammen, um James einen Flug nach Warschau zu bezahlen - der Prolog zu einer abenteuerlichen Fluchtgeschichte.

In der polnischen Hauptstadt nahm James Joseph ein Mann in Empfang, ein Vertrauter des Schleppers, der die Flucht eingefädelt hatte. Der Unbekannte entwendete ihm seine Papiere und verschwand - Joseph stand alleine da, in einem fremden Land. Ohne Geld. Ohne ein Dach über dem Kopf. Joseph trieb sich tagsüber durch die Stadt und bettelte, nachts schlief er im Park. Tag für Tag. Zwei Monate lang. Die Zeit in Warschau sei "very, very, very, very difficult" gewesen, sagt Joseph und senkt den Blick auf die Tischplatte. Sein Deutsch ist nicht gut genug, um in der Sprache seiner neuen Heimat zu erzählen.

Irgendwann, eigentlich hatte er seine Zuversicht längst begraben, traf er einen Mann, der es gut mit ihm meinte und ihm ein Busticket von Warschau nach München besorgte - ein Hoffnungsschimmer. Während der Fahrt kauerte Joseph in seinem Sitz, erfüllt von Angst, aufgespürt zu werden. "An der Grenze", erzählt er, "hatte ich Glück", schließlich hatte er keine Papiere. Doch er wurde nicht kontrolliert.

Wenn Joseph von seinen Erlebnissen berichtet, von seiner Heimat, der Flucht, den traumatischen Schlägen, die noch folgen sollten, dann spricht er langsam und leise. Seine Augen werden feucht. Man merkt, wie sehr ihn das Erlebte bewegt. Bis heute, sagt er, plagen ihn Albträume.

Als Joseph in München angekommen war, schlief er zunächst eine Nacht an der Bushaltestelle, ehe er am nächsten Tag Flüchtlingen über den Weg lief. Sie wiesen ihm den Weg zu einer Unterkunft, von wo er nach Nandlstadt geschickt wurde.

Erst dort, Monate nachdem er Nigeria verlassen hatte, fühlte er sich heimisch, fand Anschluss und knüpfte Freundschaften - dank des Fußballs. Joseph kickte in der Kreisliga für den TSV Nandlstadt, in 15 Spielen gelangen ihm 16 Tore - bis ihn seine Vergangenheit einholte. Die Behörden wollten ihn nach Polen abschieben, dorthin also, wo er erstmals europäischen Boden betreten hatte. Joseph wollte sich damit jedoch nicht abfinden und fand Ende des vergangenen Jahres Unterschlupf auf dem Gelände des Pfarrheims in Attenkirchen. Da er sich nun auf Kirchengrund befand, gingen die Behörden nicht mehr gegen ihn vor. Joseph hauste in einer Garage, mit einem provisorischen Bett, einem Heizkörper, einem Gettoblaster und ein paar Schränken, nebenan der Friedhof. Joseph war oft mulmig zumute. "Wir Nigerianer haben Angst vor dem Tod", erklärt er. Dann erzählt er von den grausamen Umständen seiner Flucht, bittet aber: "Ich möchte das nicht in der Zeitung lesen." Zu sehr wühlen ihn die Geschehnisse noch immer auf.

Sechs Monate lebte er in Attenkirchen in der Garage und kam auf den Geschmack von Kartoffeln und Grießsuppe, wie er lachend erzählt. Er harrte aus, bis die Abschiebefrist abgelaufen war - Joseph darf nun bleiben. Zumindest solange, bis das Asylverfahren neu aufgerollt und über seine Zukunft entschieden ist.

Arbeit findet er nicht. Wer nimmt schon einen, der vielleicht in einem halben Jahr wieder weg ist?

Derzeit ist er in einem Flüchtlingsheim in Ebersberg untergebracht. Seine Tore schießt er inzwischen für den SE Freising. Auch in der Landesliga Südost läuft es rund. In den ersten drei Saisonspielen hat er zwei Tore erzielt, an diesem Dienstag (19.30 Uhr) gegen den FC Deisenhofen sollen weitere folgen. Abteilungsleiter Appel traut Joseph gar die Regionalliga zu. "In zwei Jahren", schränkt er ein. Noch habe er Defizite in Taktik und Spielverständnis. "Er kennt es zum Beispiel nicht, den Passweg zuzustellen", erklärt Appel. Joseph ist eher der Freigeist auf dem Feld. Der Fußball ist eine willkommene Ablenkung für ihn, eine Gelegenheit, aus dem Alltag auszubrechen. Arbeit hat er nicht - wer stellt schon einen Flüchtling ein, der in einem halben Jahr womöglich wieder weg ist?

Tag für Tag schlägt James Joseph die Zeit tot, weiß nichts mit sich anzufangen. Er sitzt zu Hause, starrt die Wände an, schläft, isst und wartet auf das Training. Solche Tage, an denen er alleine sei und Zeit habe, nachzudenken, die seien besonders schlimm, sagt er. Seit knapp eineinhalb Jahren lebt er nun in Deutschland. Er möchte bleiben. Wohl fühlt er sich aber nur auf dem Platz. Da blüht er auf. Der Fußball sei ein Segen für ihn, er bedeutet Freiheit. Wenigstens für 90 Minuten.

© SZ vom 01.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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