Fußball:Brücken zur Stamford Bridge

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Mit 17 kam Sebastian Kneißl zum FC Chelsea, übte mit Marcel Desailly und Gianfranco Zola. Doch der Profifußball trieb ihn an seine Grenzen. Heute ist er TV-Experte und trainiert den Bezirksligisten SC Baldham.

Von Stefan Galler

Alles dreht sich um Fußball im Leben von Sebastian Kneißl. Und das ist der Grund, warum es ihm richtig gut geht. Denn der 37 Jahre alte frühere Profi hatte auch schon dunkle Tage durchzustehen. Damals vor gut fünf Jahren, als er als Abteilungsleiter in einem Möbelhaus arbeitete und irgendwann bemerkte, dass er den Job längst nicht mehr für sein eigenes Wohlbefinden ausübte: "Ich habe nur noch die Ziele anderer erfüllt und irgendwann brennt das Feuer dann aus." Er wies klassische Burnout-Symptome auf, der Arbeitgeber zeigte sich nicht gerade empathisch und sprach innerhalb weniger Tage die Kündigung aus. Für Kneißl letztendlich eine Befreiung: "Ich war in meinem Job ans absolute Limit gekommen, nun wusste ich, dass meine berufliche Zukunft im Fußball liegen würde." Er wollte jungen Menschen zeigen, wie man eigenständig handelt. Kneißl nennt das "Self-Leadership", die Kunst, sich selbst zu führen und damit auch Führungskompetenzen für andere übernehmen zu können.

Im Rückblick kann ich sagen, dass ich zu früh aufgegeben habe": Sebastian Kneißl im Jahr 2001 als hoffnungsvoller Jungprofi im Londoner Stadtteil Chelsea. (Foto: imago/HJS)

Sein Terminkalender ist gut gefüllt: Er arbeitet als Individual- und Mentaltrainer, viele Berater nehmen für ihre Mandanten seine Dienste in Anspruch und buchen ihn für Online-Coachings oder Stunden auf dem Trainingsplatz. Darüber hinaus führt Kneißl eine Fußballschule und ist neuerdings Cheftrainer des Bezirksligisten SC Baldham-Vaterstetten, nachdem er zuvor die Kreisklassenreserve des SV Heimstetten trainiert und die dortige Geschäftsstelle geleitet hatte. "Das ist meine erste Station als Cheftrainer einer ersten Mannschaft", sagt der gebürtige Südhesse. Die Rahmenbedingungen an der neuen Wirkungsstätte seien optimal, betont Kneißl, der in seiner ausklingenden aktiven Karriere eine Saison für den Klub gespielt hat: "Wir haben einen Rasenplatz, der uns exklusiv zur Verfügung steht, dazu zwei Kunstrasenplätze an der B304. Das sind hervorragende Startvoraussetzungen."

Gianluca Vialli schenkte ihm sein Trikot aus dem Uefa-Cup-Finale 1998 gegen den VfB Stuttgart

Dennoch dämpft der frühere Profi zu hoche Erwartungen, schließlich hat sich der Sportclub in den vergangenen Jahren oft genug die Zähne am Landesligaaufstieg ausgebissen. Vergangene Saison etwa lag er zur Winterpause auf Platz eins und wurde am Ende nur Dritter. Da es auch in der aktuellen Spielzeit bis zum Corona-Break nicht wunschgemäß lief, verkündete der Klub Ende März die Trennung vom allseits beliebten Trainer Ghim Shala. Nach 19 von 30 Partien liegt der SCBV fünf Punkte hinter Relegationsplatz zwei und zwölf hinter Spitzenreiter SV Bruckmühl. "Nach meinem ersten Eindruck sind wir aktuell noch nicht so weit, um Landesliga spielen zu können. Da müssen wir schon noch einen Zahn zulegen", sagt der neue Trainer, der dem Team zusammen mit seinem Assistenten Stefan Bürgermeier, ehemals SpVgg Unterhaching II und Falke Markt Schwaben, seine Spielidee näherbringen will: Den guten alten Ballbesitzfußball, weshalb im Training viel Wert gelegt wird auf Ballkontrolle und möglichst fehlerloses Passspiel.

Sebastian Kneißl als Trainer des SV Heimstetten II. (Foto: imago)

Dass Kneißl nicht bei jeder Trainingseinheit dabei sein kann, liegt an seiner Tätigkeit als Experte und Co-Kommentator beim Streaming-Sportsender DAZN. Vor kurzem war er beim Genua-Derby zwischen Sampdoria und dem CFC zu hören, und als sich Sturm-Legende Fabio Quagliarella für eine Einwechslung bereitmachte, hatte der Experte sogleich eine passende Geschichte in petto. Jener Quagliarella sei drauf und dran, bei Sampdoria Gianluca Vialli als Rekordtorschützen abzulösen. "Und Vialli war es, der mich damals zu Chelsea geholt hat."

Kneißl hat eine kurze, aber bewegte Profikarriere hinter sich. In Lindenfels im Odenwald geboren, spielte er in der Jugend bei Eintracht Frankfurt, kam mit 17 zu Chelsea, spielte leihweise in Schottland beim FC Dundee und in Belgien beim KVC Westerlo. Dann zweite Liga in Burghausen und Regionalliga bei Fortuna Düsseldorf. Vor allem die Zeit bei Chelsea hat ihn geprägt, wobei Kneißl in fünf Jahren nie in der Premier League eingesetzt wurde. Schon beim einwöchigen Probetraining durfte er als 15-Jähriger zusammen mit Marcel Desailly oder Gianfranco Zola üben, in einem Abschlussspiel gelang "The German", wie ihn der damalige Co-Trainer Ray Wilkins nannte, das entscheidende Tor. Chefcoach Vialli schenkte ihm daraufhin sein Originaltrikot aus dem Europacupfinale 1998 gegen den VfB Stuttgart und machte die Verpflichtung Kneißls fix.

Als Abramowitsch kam, holte er Damien Duff zu Chelsea - für Kneißl war kein Platz mehr

Dass es schließlich nicht zum Durchbruch reichte, hatte mehrere Gründe. Kurz vor Kneißls anvisiertem Profidebüt stieg der Milliardär Roman Abramowitsch beim FC Chelsea ein - und holte in Damien Duff ausgerechnet für Kneißls Position im offensiven Mittelfeld für 17 Millionen Pfund den bis dahin teuersten Zugang des Klubs. "Aber ich kann jetzt im Rückblick auch sagen, dass ich zu früh aufgegeben habe und keine entsprechende Reaktion gezeigt habe", räumt Kneißl ein. Dennoch könne ihm die Erfahrung von fünf Jahren an der Stamford Bridge keiner nehmen.

Hier als Co-Kommentator bei DAZN. (Foto: imago)

Dass einen der Profifußball an die Grenzen bringen kann, merkte Kneißl dann während der Leihe nach Dundee, als er erstmals im Ibrox Park vor 50 000 Zuschauern gegen die Glasgow Rangers antreten sollte. "Alles war gut, ich freute mich auf das Spiel. Aber in dem Moment, als wir aufs Feld laufen wollten, spürte ich eine komplette Lähmung." Etwa 30 Sekunden lang ging gar nichts mehr, für Kneißl endgültig der Beweis, dass "der Kopf die Leistung zu hundert Prozent beeinflusst".

Nach der Karriere arbeitete er ein Jahr als Streetworker in London. Die Kids hörten auf den Ex-Profi

Und so kam das Ende seiner Profilaufbahn drei Jahre später zwar plötzlich, aber nicht überraschend. Im Sommer 2007, mit Mitte 20, ließ er seinen Vertrag in Düsseldorf auslaufen, wurde für ein Jahr Streetworker beim FC Chelsea und bezeichnet diese Arbeit an sozialen Brennpunkten Londons noch heute als seine wichtigste Trainererfahrung. "Es war wirklich merkwürdig: Da kloppen sich vermummte Kids auf der Straße, die nicht auf Lehrer, Polizei oder Eltern hören. Aber auf mich, weil ich ein bisschen besser kicken kann als die meisten anderen", sagt Kneißl. Mit einem der Jungs von damals ist er heute noch eng befreundet; der ehemalige Hooligan ist heute Fitnesstrainer und arbeitet für ihn seine Workout-Programme aus. Denn Kneißl ist auch nach seiner Profikarriere ein passionierter Sportler geblieben, spielte unter anderem noch für die SpVgg Weiden und Schweinfurt 05 und läuft mittlerweile jede Woche drei bis vier Mal zehn Kilometer, meistens um 5.30 Uhr morgens.

Aber in erster Linie ist Kneißl "mit Leib und Seele" Fußballtrainer. Er sieht sich nach den Rückschlägen, die er in seiner Laufbahn hinnehmen musste, wie einen umgefallenen Baum, der über einem Bachlauf liegt: "Jetzt bin ich die Brücke für andere Sportler."

© SZ vom 03.08.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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