FC Bayern Basketballer:Im Comeback-Modus

Lesezeit: 3 min

Vorlagengeber und Vollstrecker: Münchens Spielmacher Wade Baldwin war der alles und alle überragende Mann beim Sieg in Istanbul. (Foto: Seskim Photo/Imago)

Fünf Minuten vor dem Ende der Euroleague-Partie bei Efes Istanbul sieht der FC Bayern wie der sichere Verlierer aus. In einer famosen Schlussphase dreht er noch das Spiel.

Von Ralf Tögel

Mit weit aufgerissenen Augen und starrem Blick schritt Jalen Reynolds auf Wade Baldwin zu, dann legte er seine riesige Pranke auf den Kopf des Kollegen - und streichelte ihm zärtlich über das Haar. Center Reynolds hatte den Ball gerade mit einem Dunking durch den gegnerischen Korb gestopft - es waren die entscheidenden Punkte zum 74:71-Sieg der Münchner. Die Spieler von Efes Istanbul hatten zuvor mit aggressivem Pressing versucht, einen Fehler des Gegners zu provozieren. Aber Baldwin behielt die Übersicht und bediente seinen Kollegen, der sich im Rücken der türkischen Spieler unter den Korb geschlichen hatte. Eine kleine Beobachtung nur, die aber die ganze Entschlossenheit des FC Bayern offenbarte.

Andrea Trinchieri hatte sich ja angesichts der famosen Ergebnisse in der Basketball-Euroleague in einem wunderbaren Traum gewähnt, der doch bitte möglichst lange andauern möge. Langsam kann sich der Münchner Trainer den Sand aus den Augen wischen, denn von Spiel zu Spiel reift die Erkenntnis, dass die Verantwortlichen da eine Mannschaft zusammengebastelt haben, die auch auf höchstem internationalen Niveau zu beeindrucken weiß.

Natürlich wird der Italiener die Erwartungen wieder bremsen und von einer Momentaufnahme sprechen - aber sieben Siege aus neun Spielen kann auch Trinchieri schwer klein reden. Die Münchner, die beim Abbruch der vergangenen Saison noch abgeschlagen Vorletzter waren und oft übel vorgeführt wurden, reihen gerade eine sehenswerte Leistung an die nächste, von Überraschungen kann kaum mehr die Rede sein: Der FC Bayern hat sich als erster Verfolger von Primus Barcelona etabliert. An diesem Donnerstag gastiert Titelverteidiger ZSKA Moskau im Audi Dome, allein angesichts der Tabelle muss man folgenden Satz sagen: Die Bayern sind Favorit!

Dabei scheint es, dass die Mannschaft ihr volles Leistungsvermögen noch gar nicht gezeigt hat. Auch in Istanbul war ihr Spiel keineswegs fehlerfrei. Das Reboundspiel etwa, bisher die große Stärke der Münchner, wurde von Efes dominiert. Aber der FCB tritt mittlerweile mit dem Selbstverständnis eines funktionierenden Kollektivs auf. Da zählt es wenig, wenn die besseren Einzelkönner beim Gegner spielen, wie in Istanbul Vasilije Micic und Shane Larkin, die der Fachwelt als wohl bestes Spielmacher-Duo des Kontinents gelten. Dazu der deutsche Center Tibor Pleiß, der sich augenscheinlich mit jedem Spiel bei Bundestrainer Henrik Rödl für eine Rückkehr ins Nationalteam bewerben will und mit 19 Zählern bester Punktesammler des Abends war. Zusammen erzielte das Trio 44 Punkte. Auch der Rest des Kaders besteht ausschließlich aus namhaften Akteuren. Das bessere Kollektiv stand aber auf der anderen Seite und beeindruckte einmal mehr mit seinem Siegeswillen.

Wade Baldwin etwa, der in den beiden vorangegangenen Spielen gegen Valencia und in der Bundesliga in Frankfurt mäßig agierte, schien den direkten Vergleich mit Larkin regelrecht zu suchen. In der Abwehr setzte er dem Spiritus Rector der Türken arg zu, in der Offensive düpierte er ihn im Eins-gegen-eins ein ums adere Mal. 15 Punkte und elf Assists sprachen klar für den Münchner, der in Reynolds einen kongenialen Partner gefunden hat. Wie Baldwin bei Piräus spielte Reynolds in Tel Aviv in der Vorsaison keine tragende Rolle - in München blühen beide förmlich auf. Paul Zipser agiert zusehends in der Form, die ihm ein NBA-Engagement einbrachte, Vladimir Lucic beeindruckt mit Konstanz.

Istanbul hatte die vergangene Euroleague-Spielzeit souverän angeführt, zweimal überdeutlich gegen den FCB gewonnen. Der edel besetzte Kader ist einer von wenigen, der trotz Corona unverändert blieb. Aber der Kontrahent aus dem fernen Bayern ist nun mindestens gleichwertig. Die Führung wechselte munter hin und her, Efes lag nach dem ersten Viertel knapp mit 23:22 vorn, die Bayern steigerten sich und gingen mit einem 42:37-Vorsprung in die Pause.

Aus der sie allerdings schläfrig zurückkamen, was eine Topmannschaft wie Istanbul sofort zu nutzen weiß. Mit 8:20 ging der FCB im dritten Durchgang unter, vermeintlich war die Vorentscheidung gefallen. Doch Trinchieris Auswahl gibt nie auf, lässt sich von keinem Rückstand entmutigen. Selbst das verletzungsbedingte Ausscheiden von Nihad Djedovic, bis dahin vorne wie hinten einer der Besten, konnte die Bayern nicht beeindrucken. Dann übernimmt eben ein Kollege. In Istanbul war es Nick Weiler-Babb: Der Guard war schnell mit drei Fouls belastet, weshalb er wenig spielte, doch in der Schlussphase versenkte er zwei wichtige Dreier - ehe er mit fünf Fouls auch vorzeitig vom Feld musste. "Die Reboundbälle gingen heute zum Teil sehr weit, deswegen hatten wir einen komplizierten Abend. Aber wir haben diesen Comeback-Modus, weil wir im Spiel bleiben", erklärte Trinchieri die mentale Verfassung seiner Auswahl: "Wir haben daran geglaubt, geglaubt, geglaubt. Und als sie nachgelassen haben, waren wir zur Stelle." Woran der Trainer maßgeblichen Anteil hat. Trinchieri setzt auf ein flexibles Kollektiv, das "viele kleine Dinge erledigt und so einen großen Auswärtssieg geschafft hat".

Nun also ZSKA Moskau, das noch einen Tick prominenter besetzt ist als Istanbul, mit Ex-NBA-Spielern wie Tornike Shengelia, dem deutschen 2,11-m-Center Johannes Voigtmann, Nachfolger von Pleiß im Nationalteam. Und dem Guard-Duo Mike James und Daniel Hackett - beide ähnlich stark wie die Kollegen aus der Türkei.

© SZ vom 19.11.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: