In einer Ecke des Schelling-Salons sitzt ein gedrungener blasser Mann über Papiere gebeugt. Sein Bart ist markant, der Schädel fast kahl, obwohl der einsame Gast kaum mehr als 30 Jahre alt ist. Herr Mayer, wie er sich nennt, lebt zurückgezogen in einem ärmlichen Zimmer an der Schwabinger Kaiserstraße. Vom Trubel der Münchner Boheme, die in dem Lokal an der Schellingstraße und in anderen Kneipen der Münchner Maxvorstadt feiert und politisiert, nimmt Herr Mayer kaum Notiz. Er arbeitet wie ein Besessener, seine brisanten politischen Schriften schickt er, versteckt im doppelten Boden eines Koffers, nach Russland. Es ist Wladimir Iljitsch Uljanow, der seit September des Jahres 1900 in München lebt und sich dort schließlich den Namen zulegt, mit dem er in die Geschichte des 20. Jahrhunderts eingeht: Lenin.
Wladimir Iljitsch Lenin ist nur einer der zahlreichen berühmten Zeitgenossen, die zu Beginn des neuen Jahrhunderts die Maxvorstadt bevölkern. Im Café Stefanie in der Amalienstraße und beim "Simplicissimus" in der Türkenstraße geben sich Dichter und Denker die Klinke in die Hand: Bei Kathi Kobus im Simpl fühlt sich der "Simplicissimus"-Zeichner Th. Th. Heine ebenso zu Hause wie die Schriftsteller Frank Wedekind und Ludwig Thoma sowie der Blaue-Reiter-Künstler Franz Marc. "Als Hausdichter wurde der Sachse Hans Bötticher gewonnen, ein höchst witziger und begabter Mann damals schon, als keiner von uns vermutete, daß er einmal den Namen Joachim Ringelnatz berühmt machen werde", schreibt der anarchistische Publizist Erich Mühsam in seinen "Unpolitischen Erinnerungen". Der chronisch unter Geldmangel leidende Dichter und Kabarettist Ringelnatz muss mehr als einmal seine Zeche in Gedichten bezahlen, und so entsteht auch eine Hommage an Wirtin und Wirtshaus: Schwelg' ich dann bei Knödelsuppe / Hier im Simplicissimus, / Ist die ganze Welt mir schnuppe, / Bis die Polizei ruft: "Schluß!"
Im Sommer 1914 ist mit dem Feiern Schluss. Die dunklen Wolken des Krieges ziehen herauf, Pazifist Erich Mühsam ist einer der wenigen, die gegen die Kriegs-Euphorie anschreiben. Vergeblich: "Und es ist Krieg. Alles Fürchterliche ist entfesselt. Seit einer Woche ist die Welt verwandelt. Seit drei Tagen rasen die Götter. Wie furchtbar sind diese Zeiten! Wie schrecklich nah ist uns allen der Tod! " Wenige Tage zuvor, am 2. August 1914, macht der Fotograf Heinrich Hoffmann am Odeonsplatz ein Bild, das später um die Welt geht: Eine euphorische Menschenmenge bejubelt vor der Feldherrnhalle den Ausbruch des Ersten Weltkriegs und stimmt "Die Wacht am Rhein" an. Auf dem Foto ist auch ein schmächtiger junger Mann mit Schnauzer zu erkennen. Es ist Adolf Hitler.
Am 25. Mai 1913 steigt Hitler mit seinem Begleiter Rudolf Häusler am Münchner Hauptbahnhof aus dem Zug. Die beiden mieten sich in einem Zimmer im dritten Stock eines ärmlichen Mietshauses an der Schleißheimer Straße ein. Der damals erst 24-jährige Hitler ist eigentlich schon ein Gescheiterter. Sein Versuch, in Wien als Maler oder Architekt Karriere zu machen, schlugen mangels Begabung fehl. Also schlägt er sich in München durch, verkauft für ein paar Mark Bilder. Wie zuvor Lenin sitzt Hitler oft im Schelling-Salon, wo er jedoch Lokalverbot bekommt, weil er seine Zeche nicht zahlt. Sein neues Stammlokal, die Osteria Italiana, liegt gleich um die Ecke und existiert bis heute.
Die Schellingstraße zieht sich wie ein roter Faden durch die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts. Auch Hitler hatte hier jahrelang seinen Lebensmittelpunkt. Nicht nur im Schelling-Salon und der Osteria, sondern auch einige Meter weiter in Richtung Ludwigstraße: Die Hausnummer 50 ist ein unscheinbares rostfarbenes Gebäude. Über dem Eingang ist noch ein Reichsadler zu erkennen. Hier, in den Atelierräumen des Hitler-Fotografen Heinrich Hoffmann, hat die NSDAP jahrelang ihre Parteizentrale, bis 1931 hängt im "Ehrensaal der SA" die "Blutfahne" der Nazis.
Auch Heinrich Himmler, der spätere Reichsführer-SS und Reichsinnenminister, geht in Hitlers erstem Hauptquartier ein und aus. Das beobachtet ein Bub, der mit seiner Familie auf der anderen Straßenseite lebt, ganz genau. "Ich erinnere mich an Heinrich Himmler, der seinen Wagen immer vor unserem Haus parkte und auch oft zu meinem Vater in den Laden kam. Immer wieder hat er meinen Vater bedrängt, doch in die NSDAP einzutreten", erinnert sich Franz Josef Strauß in seinen Memoiren. Seit 1915 wohnt die Familie in der Schellingstraße 49, der Vater hat dort eine kleine Metzgerei. Als Himmler wieder einmal den Vater bedrängt, zischt Franz Josef senior: "Eher freß' ich Hundefutter, als daß ich in die Partei eintrete." Der Satz ist gefährlich, die Familie Strauß ist von Nationalsozialisten umgeben. Nebenan in der Schellingstraße sitzt die Redaktion des Völkischen Beobachters. Gedruckt wird das Kampfblatt der Nazis und auch Hitlers "Mein Kampf" im Münchner Buchgewerbehaus.
Just vor diesem Haus versammelt sich am Abend des 11. April 1968 eine aufgebrachte Menschenmenge, nachdem in Berlin der APO-Aktivist Rudi Dutschke niedergeschossen worden ist. In dem Gebäude hat mittlerweile die Bild-Zeitung ihren Sitz, die Demonstranten machen das Blatt mitverantwortlich für den Anschlag auf den Studentenführer. "Bild hat mitgeschossen" lautet eine der Parolen. Um Mitternacht stürmen 200 wütende Demonstranten die Redaktion, vernichten das Mobiliar und werfen Akten auf die Schellingstraße. Als die Polizei um 1 Uhr eintrifft, sind die Zeitungs-Besetzer schon getürmt. In den folgenden Tagen versuchen die Demonstranten mit Sitzstreiks und Blockaden die Auslieferung des Springer-Blatts zu verhindern. Am Ostermontag, es ist der 15. April 1968, eskaliert die Situation. Die Polizei nimmt 120 Demonstranten fest, in dem Tumult wird der Münchner Fotoreporter Klaus Frings von einem Stein so schwer verletzt, dass er zwei Tage später stirbt. Auch der Student Rüdiger Schreck kommt an den Folgen einer Schädelfraktur ums Leben. Die Umstände seiner tödlichen Verletzung werden nie restlos geklärt.
Heute ist die Schellingstraße eine schicke Einkaufsmeile mit trendigen Kneipen. An ihre bewegte und oft blutige Vergangenheit erinnert nur noch eine Backsteinwand an einem Universitätsgebäude an der Ecke zur Ludwigstraße. Unzählige Einschusslöcher aus dem Zweiten Weltkrieg sind dort noch immer zu sehen. Eine Glasplatte der Münchner Künstler Alexander von Weizsäcker und Beate Passow ist über die vernarbte Hauswand gelegt. Darauf steht eingraviert "Wunden der Erinnerung".
Am Freitag: Mit BMW ins 21. Jahrhundert (letzter Teil der Serie)