Wenn Anna Mirabichvili zu Vera Lamkenis in die Wohnung kommt, ist der Tisch bereits gedeckt. Denn kurz, bevor sie losfährt, klingelt die 33-Jährige erst einmal durch. "Kommen Sie schnell, ich warte sehnsüchtig", freut sich die alte Dame dann am anderen Ende der Leitung. Trotzdem ist Lamkenis oft erstaunt, wenn ihr Gast samt Hund Sazou vor der Tür steht.
Die 94-jährige Schwabingerin, die in Wirklichkeit anders heißt, leidet an schwerer Demenz. Zweimal in der Woche, dienstags und freitags, besucht Anna Mirabichvili die quirlige Seniorin für ein paar Stunden. Dann unterhalten sich die beiden, trinken Tee und essen Kuchen, lösen gemeinsam Kreuzworträtsel oder schauen Fotoalben an. Eben alles, was Spaß macht. "Wir haben nur Fun-Time", sagt Mirabichvili - und lacht. "Frau Lamkenis ist ein extrem guter Gesprächspartner, sie erzählt mir die tollsten Geschichten, gespickt mit Humor und Philosophie."
Die Seniorin ist verbal sehr eloquent, sie redet gern und viel. Sie erinnert sich an zahlreiche Details aus ihrer Kindheit, an Straßennamen, S-Bahn-Haltestellen und die Trabrennbahn in Berlin, an die Hunde ihres Großvaters. Und daran, wie die Salben und Hustensäfte hießen, die sie früher als Apothekerin zusammenmixte. Ihr Kurzzeitgedächtnis aber ist inzwischen fast erloschen. Dass Rüde Sazou kastriert ist, hat Lamkenis allerdings noch nicht vergessen, das geht ihr emotional zu nahe. "Aber wenn ich hier nachher rausgehe", dessen ist sich Anna Mirabichvili sicher, "dann weiß sie nicht mehr, dass ich da war". Dabei kennen sich die beiden seit mittlerweile einem Jahr. Trotzdem sind der jungen Frau die Besuche extrem wichtig. "Ich mache das mit Herz", sagt sie. "Im Alter, finde ich, sollte niemand lange alleine sein."
Anna Mirabichvili engagiert sich als eine von elf ehrenamtlichen Helfern beim Projekt "Schwabinger Allianz für Menschen mit Demenz". Es ist genau das, was die Personalberaterin schon lange machen wollte. "Mir hat immer etwas gefehlt in meinem Leben, eine soziale Komponente." Mit klassischer Seniorenarbeit hatte die 33-Jährige bis dahin nie etwas am Hut, doch dieses Ehrenamt, sagt sie, sei einfach perfekt. "Ich sitze hier, habe einen total schönen Nachmittag und tue etwas Gutes". Obendrein sei das Engagement auch noch zeitlich flexibel, denn Vera Lamkenis "ist es ja völlig wumpe, wann ich auftauche, Hauptsache, ich komme".
Dass die Beziehung zwischen den beiden Frauen so harmonisch funktioniert, ist nicht zuletzt Elisabeth Feustel zu verdanken. Die Gerontologin ist die Leiterin des von der Caritas initiierten Projekts, sie sorgt dafür, dass sich Ehrenamtliche wie Anna Mirabichvili keine Sorgen machen müssen. Feustel klärt schon vor einem ersten Treffen mit Helfern ab, ob es Angehörige gibt und ob eine Eigen- oder Fremdgefährdung des Patienten vorliegt. Sie regelt die gesundheitliche Versorgung, sie kümmert sich um die Pflege der Demenzkranken. "Auf keinen Fall wollen wir die Ehrenamtlichen überfordern", betont die 28-Jährige. "Sie sollen sich nicht verantwortlich fühlen." Dass das nicht immer einfach ist, weil Gefühle im Spiel sind, ist der Projektleiterin bewusst. Deshalb telefoniert sie viel, hört sich an, was die Helfer zu erzählen haben. Anna Mirabichvilis zweimaligen Besuch pro Woche bei Vera Lamkenis befürwortete Feustel daher anfangs nicht- um die Ehrenamtliche vor emotionaler Überforderung zu schützen. Erst als Mirabichvili versicherte, es sei alles in Ordnung, stimmte die Projektleiterin zu.
Helferkreise für Menschen mit Demenz gibt es in München viele, doch die Schwabinger Allianz ist etwas Besonderes. Ein Modellprojekt, zwei Jahre gefördert vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Denn im Gegensatz zu den 16 anderen Helferkreisen, bei denen die Besuche der Ehrenamtlichen kostenpflichtig und mit den Pflegekassen abzurechnen sind, ist das Engagement der Schwabinger für die Empfänger kostenlos. Allein in Schwabing und Milbertshofen, wo der Helferkreis zuständig ist, leben rund 140 000 Menschen, von denen statistisch gesehen etwa 2500 an Demenz erkrankt sind. Und von diesen wiederum leben an die 300 wie Vera Lamkenis in Ein-Personen-Haushalten.
Die Caritas schließt mit dem Projekt insofern eine Versorgungslücke, als sie auch Betreuer zu Kranken schicken kann, die noch keinen Pflegegrad haben. Oder zu Menschen, bei denen die von der Pflegekasse zu erstattenden Betreuungsleistungen bereits aufgebraucht sind. Möglich auch, dass es innerhalb eines Haushalts mehrerer Helfer bedarf, dann teilen sich ein von der Pflegekasse anerkannter Helferkreis und die Schwabinger Allianz die Betreuung. "Wir und die Kollegen ergänzen uns gut, da gibt es keine Konkurrenz", betont Feustel. Obwohl sich die Gebiete überschneiden. "Der Bedarf ist einfach zu hoch."
Ehrenamtliche, die sich bei der Schwabinger Allianz engagieren, erhalten von der Caritas eine Aufwandsentschädigung von monatlich 39 Euro, für Fahrtkosten, Parkgebühren oder auch mal einen Kuchen, den sie mitbringen. Außerdem werden sie auf Kosten der Caritas zum Demenzhilfer ausgebildet, die Schulung umfasst 40 Stunden. Wer teilnimmt, erfährt viel über das Krankheitsbild. Vorkenntnisse sind nicht erforderlich, die einzige Voraussetzung ist Empathie. "Die meisten Helfer sind völlig unerfahren", sagt Feustel. "Aber das macht nichts. Denn das Schöne an der Demenz ist: Fehler werden vergessen." Im August läuft die Förderung des Modellprojekts aus, die Caritas hofft aber, dass sie den Helferkreis weiter führen kann. Sie ist schon auf der Suche nach neuen finanziellen Unterstützern.
Wer Fragen zur Demenz hat, Unterstützung sucht oder Hilfe anbieten möchte, wendet sich an Elisabeth Feustel. Sie ist telefonisch erreichbar unter 3000 76 45 oder per E-Mail an Elisabeth.Feustel@caritasmuenchen.de.