Schulkinowoche:Mit einem Ballon auf Zeitreise

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Unterricht im Kinosaal: Michael "Bully" Herbig erzählt mit dem jungen Darsteller Jonas Holdenrieder von den Dreharbeiten des Flucht-Thrillers "Ballon". (Foto: Robert Haas)

Rekord für die zwölfte Schulkinowoche Bayern mit 170 000 Anmeldungen. In Kinoseminaren lernen Schüler den bewussten Umgang mit dem Medium. Mit dabei sind auch Filmschaffende wie Michael "Bully" Herbig

Von Barbara Hordych

Es ist die wahre Geschichte von der wohl spektakulärsten Flucht aus der DDR, auf der Michael "Bully" Herbigs Film "Ballon" aus dem Jahr 2018 beruht: Zwei thüringische Familien, die Strelzyks und die Wetzels, Eltern mit jeweils zwei Kindern, überwanden im September 1979 die Grenze in einem selbst gebastelten Heißluftballon und landeten in Naila in Oberfranken. Der nervenaufreibende Wettlauf mit der Zeit und mit der Stasi, die den beiden Familien auf die Spur gekommen war, noch befeuert durch den Umstand, dass der Ballon kurz vor der innerdeutschen Grenze zu sinken beginnt, bannt die Zuschauer im voll besetzten Kino Breitwand Gauting in ihre Sessel. Er sei ein großer Verehrer von Alfred Hitchocks Thrillern, erklärt Regisseur Michael "Bully" Herbig nach dem Applaus im Anschluss an die Vorführung dem Publikum - das allerdings das Werk des Suspense-Spezialisten größtenteils gar nicht mehr kennt, wie eine kurze Probe mit Handzeichen ergibt.

Die Zuschauer an diesem Vormittag sind eben keine Cineasten mit grauen Schläfen, sondern junge Schüler ab 14 Jahren, die an der Schulkinowoche Bayern teilnehmen. Das Breitwand Gauting ist dabei nur eines von 125 Kinos in 116 Städten, die bis 5. April 170 000 Besuchern als Lernort dienen. Für einen Unterricht, "der Wissen mit Emotion und Identifikation vermittelt, in Geschichten, die mit dem Lehrplan zu tun haben", sagt die Medienpädagogin Vera Haldenwang. Als Projektleiterin am Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung (ISB) hat sie vor zwölf Jahren die erste Schulkinowoche in Bayern auf den Weg gebracht, da waren es 70 000 Besucher, die am Programm teilnahmen.

Herzstück der inzwischen sehr gut etablierten Schulkinowoche sind die Kinoseminare, in denen Medienpädagogen oder Filmschaffende das Leinwand-Geschehen mit den Schülern diskutieren. "Wie haben die Leute denn reagiert, als sie auf einmal so einen ernsten und spannenden Stoff vorgeschlagen haben?", will einer der Zuschauer von Herbig wissen. Schließlicht sei es doch der erste Thriller des Regisseurs, der bisher vor allem mit Komödien und Familienfilmen Erfolge hatte. "Was sie hinter meinem Rücken gesagt haben, weiß ich natürlich nicht", räumt Herbig ein und lacht. Aber ihm gegenüber habe niemand offen Misstrauen geäußert, als er ein neues Genre ergreifen wollte. Weil er die Geschichte und die dazugehörige Historie sehr ernst nehme, sei ihm die Montage gleich zu Anfang sehr wichtig gewesen. "Film hat ja den Vorteil, ganz rasch zeigen zu können, wo man ist und wie es sich dort lebt, ohne lange ausholen zu müssen", sagt Herbig. Deshalb eröffne er den Film mit dem jungen Mann, der beim Versuch, nachts durch den Todesstreifen zu gelangen, erschossen werde.

"Gedreht haben wir diese Szene in Thüringen, dort ist ein Teil des originalen Todesstreifens erhalten geblieben", sagt Herbig. Das sei die dunkle Seite der DDR. Die hellere zeige er später: Da wird feierlich die Jugendweihe begangen, von Frank, dem älteren Sohn der Strelzyks. Eine heile DDR-Welt, die sogleich wieder gebrochen wird. Denn auf dem Nachhauseweg sitzt die Familie Strelzyk zusammengepfercht in ihrem Wartburg mit dem Nachbarn und seiner Frau. Der Nachbar gibt sich jovial, auch wenn er in der Kleinstadt Pößneck als Stasi-Spitzel bekannt ist, die Strelzyks machen mühsam freundliche Konversation. Das Misstrauen war allgegenwärtig, man konnte ja nie wissen, wo etwas landet. Und im Falle der Strelzyks, die zu Hause im Keller gemeinsam mit der Familie Wetzel an einem Heißluftballon bastelten, galt es besondere Vorsicht walten zu lassen.

Erschwerend kommt hinzu, dass Strelzyk-Sohn Frank in die Tochter des benachbarten Stasi-Mannes verliebt ist. Verkörpert wird er im Film von Jonas Holdenrieder, der Herbig an diesem Vormittag ins Kino begleitet. Er ist in Gauting zur Schule gegangen und steht den Zuschauern durch sein Alter besonders nahe. Ob es schwer für ihn gewesen sei, in die Rolle dieses Jungen, der in der DDR aufgewachsen ist, zu schlüpfen?, wird Jonas gefragt. "Sobald ich diese speziellen Klamotten anhatte, nicht mehr", gibt Holdenrieder zurück. Tatsächlich hat Herbig auf eine authentische Ausstattung bis ins Detail sehr großen Wert gelegt, die Requisiten sind Originale und stammen alle aus der ehemaligen DDR. Wie er denn vorgegangen sei, er komme doch gar nicht von dort?, will eine Schülerin wissen. Er habe sehr genau zur Historie recherchiert, Interviews mit Günter Wetzel und dem inzwischen gestorbenen Peter Strelzyk geführt und beim Drehbuchschreiben Militärberater hinzugezogen. Thomas Kretschmann, der Darsteller des DDR-Ermittlers Oberstleutnant Seidel, sei zudem Anfang der Achtzigerjahre selbst geflüchtet. "Zu Fuß, seine Fluchtgeschichte müsste man eigentlich in einem eigenen Film erzählen", sagt Herbig.

Dazu habe er sich durch 2 000 Seiten Stasi-Akten gearbeitet, "es war tatsächlich so, wie wir es im Film zeigen: Wenn die beiden Familien noch eine Woche länger gewartet hätten mit ihrer Flucht, hätte die Stasi sie gehabt". Nachdem ein erster Fluchtversuch mit einem Ballon gescheitert war, "in Wirklichkeit waren es sogar zwei Versuche, das hätte aber den Rahmen des Films gesprengt", waren die Ermittler den Familien auf der Spur. Günter Wetzel und seine Frau Petra machten Herbig übrigens das größte Kompliment: Als er ihnen den Film zeigte, brach Petra Wetzel in Tränen aus. "Ich weiß ja, wie die Flucht ausgegangen ist. Trotzdem habe ich bis zum Ende gebangt, ob sie es schaffen", sagte sie ihm.

© SZ vom 03.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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