Schach:Matt in zwei Jahren

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Hans-Dieter Wunderlich in seiner Kommando-Zentrale: Auf dem Tisch Bildschirme, auf denen er seine Partien gleichzeitig spielt - und natürlich ein Glas Riesling. (Foto: Robert Haas)

Hans-Dieter Wunderlich ist Team-Weltmeister im Fernschach. Das bedeutet: Bis zu fünf Tage Bedenkzeit, bis zu 40 Partien parallel. Für das WM-Finale rechnet er mit rund 600 Stunden

Von Jan Geissler, München

Zwei Menschen sitzen sich an einem Tisch gegenüber, zwischen ihnen ein Spielbrett mit 64 Feldern, abwechselnd schwarz und weiß. Mal sitzen sie sich (in der romantischen Variante) in einem altmodischen, von Tabakrauch geschwängerten Kaffeehaus gegenüber, meistens (in der klassischen Vereinssport-Moderne) in einem nüchternen Bürgerhaus. Dort sitzen sie, schweigend, stundenlang, nur ab und an schiebt einer der beiden eine Figur über das Spielfeld. Dann der andere. Abwechselnd. Dazwischen nur Stirnrunzeln, Bartkraulen, Schläfenmassage. Grübeln.

Wer zwei Außerirdischen, die gerade auf der Erde gelandet sind, die Sportart Schach beschreiben müsste - und selbst nicht allzu viel damit anfangen kann -, würde das "Spiel der Könige", wie andere es nennen, wohl so schildern.

Auch Hans-Dieter Wunderlich, 63, hat lange ganz klassisch in einem Verein Schach gespielt: Mit dem SC Sendling schaffte er einst den Aufstieg in die zweite Bundesliga. Zu mehr als einem "passablen Amateurschachspieler" reichte es jedoch nie. Und nachdem er Ende der achtziger Jahre Vater geworden war, spielte er immer weniger. Heute spielt Wunderlich mehr denn je, wenn auch nicht mehr über ein Schachbrett gebeugt. Was ursprünglich als Training für die Rückkehr zum klassischen Schach gedacht war, entwickelte sich rasch zu seiner neuen Lieblingsdisziplin: Fernschach. Als sogenannter Großmeister und 23. der Weltrangliste zählt Hans-Dieter Wunderlich inzwischen zur internationalen Spitze.

"Ich habe fünf Tage Zeit für einen Zug, spiele aber manchmal 30 bis 40 Partien gleichzeitig", sagt Wunderlich. Was kurios klingt, ist das Alleinstellungsmerkmal einer Sportart, die nur echten Experten bekannt ist. Fernschach folgt denselben Regeln wie übliches Schach, nur dass die Spieler eben deutlich mehr Bedenkzeit haben. "Man könnte es auch Langsamschach nennen", sagt Wunderlich, der seinen Gegnern nie persönlich gegenüber sitzt, aber dennoch hin und wieder mit ihnen Nachrichten austauscht.

Grundsätzlich bedeutet die wissenschaftliche Disziplin, wie er sie selbst nennt, aber vor allem Entspannung. "Normales Schach ist mir inzwischen fast schon zu hektisch", nennt Wunderlich einen der Gründe für seinen Wechsel vom Nah- zum Fernschach. Man glaubt es ihm: Die Füße auf dem Tisch, die Lehne seines Schreibtischstuhls weit nach hinten geneigt, ein Glas deutschen Rieslings griffbereit. Wunderlich ist tiefenentspannt und trotzdem hoch konzentriert: "Fernschach ist körperlich bei weitem nicht so anstrengend", sagt er. Während die Züge ursprünglich per Postkarte ausgetauscht wurden, hat sich Fernschach seither gewandelt. Auf die Postkarte folgten Fax und E-Mail, später setzte sich das sogenannte Serverschach durch, wodurch es heute quasi ein Onlinespiel ist: Spieler eins macht seinen Zug, speichert und überträgt diesen; just in diesem Moment hat Spieler zwei die Gelegenheit, zu ziehen. Für zehn Züge sind 50 Tage Bedenkzeit vorgesehen - im Schnitt also fünf Tage pro Zug. Oft wird die Zeit jedoch nicht annähernd ausgenutzt. Die Folge: Bedenkzeit sammelt sich an. "Abgerechnet wird in ganzen Tagen, sprich, wenn ich für einen Zug 23 Stunden benötige, sind das letztlich trotzdem null Tage Bedenkzeit", erklärt Wunderlich. So sei es durchaus üblich, dass manch einer 100 bis 300 Tage Bedenkzeit hortet. Vor allem zu Beginn einer Partie sei dies häufig der Fall. Knifflig werde es erst nach rund 20 Zügen. Wunderlich selbst investiert im Schnitt eine Stunde pro Zug, Ausnahmen bestätigen die Regel: "Es gibt auch Spiele, da grübelt man schon mal 30 oder 40 Stunden über einen einzelnen Zug." Nur gut, dass sich die Spieler dabei nicht komplett auf das eigene Gehirn verlassen müssen.

Während Wunderlich über den nächsten Zug nachdenkt, berechnen zwei leistungsstarke Computer im Hintergrund bereits die Züge der anderen Partien. Anschließend gilt es die Vorschläge der Spezialsoftware zu bewerten. "Ich könnte dem Programm auch blind vertrauen, allerdings macht das keinen Spaß", verteidigt Wunderlich den Einsatz technischer Hilfsmittel. Natürlich gebe es Spieler, die der Meinung sind, dass der Sport ohne die Unterstützung viel spannender wäre, Wunderlich sieht das anders: "Für mich ist es der Anspruch, den objektiv besten Zug zu finden. Ohne Technik ist das unmöglich." Gerade dieses Streben nach Perfektion erklärt die mit 80 bis 90 Prozent enorm hohe Remis-Quote. Je besser die Computer, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass sich beide Seiten neutralisieren.

Aktuell spielt Wunderlich 21 Partien gleichzeitig, verteilt auf vier Turniere, rund 25 Stunden pro Woche. Eine davon ist das WM-Finale, das als einzelnes Turnier gewertet wird und rund zwei Jahre dauert. 600 Stunden seien hierfür eine realistische Zahl, meint er. Viel Zeit. Und dennoch hat der Großmeister, der als Sicherheitsingenieur in der Eisenbahnindustrie arbeitet, noch Freiräume. "Ich gehe täglich Joggen, fahre rund 6000 Kilometer Rad im Jahr und gehe ein Mal pro Woche Tennis spielen", sagt Wunderlich. Er müsse sich ja körperlich fit halten, schließlich sitze er viel vor dem Bildschirm. Vorzugsweise abends. Morgens vor der Arbeit denke er grundsätzlich nicht über Schach nach. "Am Wochenende bin ich dann viel im Einsatz." Nach dem Frühstück führe der erste Weg an den Computer. Und die Lebensgefährtin? "Die ist glücklich, weil sie so ihren eigenen Beschäftigungen nachgehen kann", sagt Wunderlich. Mit der Nationalmannschaft gewann er zweimal die Fernschach-Olympiade, gleichbedeutend mit einer Weltmeisterschaft, bei der Einzel-WM wurde er Zweiter. Der ganz große Wurf, der Einzel-WM-Titel, blieb ihm bisher versagt. "Nächstes Jahr im Juni startet wieder ein Finale", sagt Wunderlich. Dort trete er an, um zu gewinnen. Und das ist ein weiterer Unterschied: Der gute Fernschach-Spieler denkt nicht Züge voraus, sondern Jahre.

© SZ vom 09.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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