75. Geburtstag:"Mir hat davor gegraust"

Lesezeit: 4 min

Rotraut Susanne Berner. (Foto: Peter Steffen/dpa)

Illustratorin Rotraut Susanne Berner über ihre Wimmelbücher, den Wert der Sprache, schwer zu malende Tiere und was sie heute nicht mehr zeichnen würde.

Von Joachim Heinz/KNA

Wenn die Grafikerin und Illustratorin Rotraut Susanne Berner im Schnelldurchlauf ihr Werk vorstellen will, muss das Buchregal in ihrer Münchner Wohnung mitunter als Gedächtnisstütze herhalten. Denn in bald 50 Jahren ist einiges zusammengekommen. Berner arbeitete mit Hans Magnus Enzensberger für "Der Zahlenteufel", bebilderte Wolfdietrich Schnurres Liebesgeschichte "Die Prinzessin kommt um vier" oder Christof Heins "Das Wildpferd unterm Kachelofen". Sie schuf ein ganzes Universum um den Hasen Karlchen. Und erfreut seit 20 Jahren eine immer noch wachsende Fangemeinde mit ihren Wimmelbüchern. Nun wurde Berner 75.

Frau Berner, Ali Mitgutsch ist so etwas wie der Übervater der Wimmelbücher. Wie kamen Sie dazu, im Jahr 2003 selbst in diesem Segment aktiv zu werden?

Rotraut Susanne Berner: Das war eigentlich gar nicht meine Idee, sondern die Idee von Edmund Jacoby, damals noch Verlagsleiter bei Gerstenberg. Der hat immerzu gedrängelt. Mir hat davor ein wenig gegraust. Denn Wimmelbücher sind zugleich kleine Sachbücher, man muss viel und sehr genau recherchieren. Und anders als Ali Mitgutsch wollte ich den Faktor Zeit mit hineinnehmen, also eine Art Roman in Bildern erzählen, von einem Wintermorgen bis zu einem Herbstabend. Hätte ich von Anfang an gewusst, wie umfangreich das ist, hätte ich es nicht gemacht. Aber nach dem ersten Band - Winter - gab es kein Pardon mehr.

Wo ist denn Wimmlingen, der Ort der Handlung?

Wimmlingen ist ein fiktiver Ort mit allem, was so dazugehört: Bauernhof, Kaufhaus, Tankstelle, Bahnhof, Marktplatz, Park... Dort wohnen jede Menge Leute. Etwa 50 davon habe ich getauft, ihnen also einen Namen gegeben. Deren Wege kreuzen sich im Verlauf der einzelnen Bände. Im Vordergrund verläuft eine Straße, das ist meine Bühne. Alles bewegt sich von links nach rechts, sozusagen in Leserichtung.

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Wie konnten Sie bei all dem Gewimmel den Überblick behalten?

Indem ich wie beim Film ein kleines Drehbuch geschrieben habe.

In Wimmlingen tauchen auch Nonnen auf - für manche vielleicht ein ungewohnter Anblick.

Ich habe damals in einem Atelier gearbeitet, in dessen Nachbarschaft sich ein von Ordensfrauen geführter Kinderhort befand. Die Schwestern waren immer sehr rustikal unterwegs, mit festen Turnschuhen, und haben mit den Kindern Sport gemacht. Und so kamen sie dann auch nach Wimmlingen.

Gibt es Dinge, die Sie inzwischen nicht mehr so zeichnen würden?

Ach, jetzt spielen Sie auf die Sache mit den Zigaretten an. Heute würde ich tatsächlich die Raucher weglassen. In Wimmlingen wird ja noch im Café geraucht. Das würde man heute nicht mehr sehen.

Und die Kirche? Um das Image von Katholiken und Protestanten steht es ja nun nicht gerade gut.

Es gibt Leute, die mir vorwerfen, dass ich mit der Kirche in Wimmlingen ein Bild der heilen Welt transportiere. Meine Antwort darauf lautet immer: Fahren Sie mal mit dem Zug von München nach Stuttgart und schauen Sie aus dem Fenster. Es gibt in jedem Ort mindestens eine Kirche. Die Kirche in Wimmlingen ist ein Abbild unserer Landschaft. Das hat keinerlei Hintergründe. Ich würde sie auch heute nicht weglassen, denn die Kirchen sind da.

Illustration aus Rotraut Susanne Berners Frühlings-Wimmelbuch. (Foto: Gerstenberg Verlag)

In jüngster Zeit sind auch Kinderbücher Gegenstand von Debatten. So wurden die Romane von Astrid Lindgren überarbeitet und dem heutigen Sprachgebrauch und Sprachverständnis angepasst.

Ich kann das Anliegen verstehen, finde die Debatte aber ein wenig hysterisch. Man kann nicht alles ausbügeln und "nice" machen, nett und freundlich. So ist es nicht und so war es nie. Man sollte nachträglich keine Werke umschreiben. Stattdessen kann man aus heutiger Sicht kritische Passagen kommentieren. Das halte ich für eine bessere Lösung, als etwa so zu tun, als hätte es Rassismus gar nicht gegeben.

Können Sie das an einem Beispiel erläutern?

Eine befreundete Verlegerin hat den Südstaaten-Roman "Vom Winde verweht" neu herausgebracht. Wenn die Protagonisten das N-Wort aussprechen, hat sie das stehen gelassen. Andernfalls wäre die Diskriminierung weg gewesen, der die Schwarzen in den USA im 19. Jahrhundert ausgesetzt waren. Dann versteht man das ganze Buch nicht mehr. Ich finde es schwierig, wenn man Rassismus leugnet, um ihn aus der Welt zu schaffen. Wir versuchen ja alle, aus der Geschichte zu lernen und die Erinnerung wachzuhalten. Wenn man aber die Erinnerung wegradiert, dann lässt sich wohl kaum verhindern, dass Dinge wie Rassismus wieder passieren.

Fänden Sie als Illustratorin und Grafikerin es eigentlich schlimm, wenn wir uns künftig hauptsächlich in Emojis anstatt über Buchstaben verständigen?

Das wäre schlimm. Denn diese schwarzen Zeichen, die wir Schrift nennen, erlauben uns einen unglaublichen Reichtum an Komplexität und Differenzierung. Natürlich gibt es Botschaften in Form von Bildern. Aber die Sprache, die uns dazu befähigt, genau zu sein, einfallsreich, brillant oder auch einfältig, ginge ohne Schrift verloren. Ich finde es zum Beispiel schade, wenn Menschen nur noch im Stakkato der Schlagzeilen sprechen, ohne Nebensätze zu benutzen.

In Wimmlingen leben nicht nur Menschen, sondern auch Katzen, Papageien und Gänse. Gibt es Tiere, die Ihnen leichter von der Hand gehen als andere?

Katzen fallen mir sehr leicht. Kühe finde ich komplizierter, die sind so viereckig. Und dann Meerschweinchen! Ein ganz schwerer Fall. Die sind amorph, haben keine Form.

Haben Sie eine Lieblingsfigur in Wimmlingen?

Der Buchhändler ist mir sehr nahe, das ist eins zu eins mein verstorbener Ehemann. Und er heißt auch Armin. Aber dann kommt schon ziemlich bald Oskar mit seiner Gans unterm Arm. Weil der irgendwie so schräg ist und immer ein wenig geheimnisvoll bleibt.

Wie viel von Rotraut Susanne Berner steckt in der Wimmlingerin und Hutliebhaberin Susanne?

Da steckt ein bisschen was von mir drin - vor allem die Tendenz, Hüte und Mützen zu verlieren.

Hätte eigentlich auch ein Promi aus der realen Welt Platz in Wimmlingen?

Den gibt es sogar schon, T.C. Boyle.

Der amerikanische Bestsellerautor?

Ja. Tom, der mit seiner roten Vespa durch Wimmlingen braust, das könnte er sein. T.C. Boyle und ich kennen uns ganz gut. Deswegen habe ich Tom erfunden. Er ist übrigens im Sommernacht-Band mit Susanne unterwegs - wobei das auf keinen Fall autobiographisch gemeint ist! Nicht, dass da falsche Gerüchte aufkommen und seine Frau deswegen bei mir vorstellig wird!

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