Razorlight in München:Verdient exzentrisch

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Alles andere als eine lästige Verpflichtung: Der Kritik an ihrem neuen Album zum Trotz zeigen Razorlight, dass sie in erster Linie eine phantastische Live-Band sind.

Julia Grimminger

Der Song heißt "Wire to Wire". Man kennt ihn aus dem Radio. Zigmal hat Razorlight-Frontmann Johnny Borrell den Song für uns gesungen: Beim Frühstück, im Auto, im Supermarkt an der Kasse. Diesmal, in der Münchner Tonhalle, braucht er zwei Anläufe. Er greift zum Mikrofon, als gebe es ihm Halt, schließt die Augen, fragt zweifelnd ins Mikrofon: "What is love but the strangest of feelings?"

Razorlight hat am Dienstag in München gespielt - auf dem Foto ist die Band allerdings noch in ihrer alten Besetzung zu sehen. Der Schlagzeuger hat inzwischen gewechselt. (Foto: Foto: oh)

Borrell versteht es, sich zu inszenieren. Privates macht er gern zum Programm: Im neuen Album "Slipway Fires" soll er drei Beziehungen verarbeitet haben, unter anderen die Liaison mit US-Schauspielerin Kirsten Dunst. Die Lyrik von "Wire to Wire" hat ihn selbst so begeistert, dass er mit dem Gedanken spielte, sich ein paar Zeilen auf die Haut zu tätowieren. Wutausbrüche, Kloppereien mit den Bandkollegen, Rausschmisse aus Restaurants: Johnny Borrell hat es verdient, exzentrisch genannt zu werden.

Melancholie eines vom Leben Geschüttelten

Neu ist die Melancholie eines vom Leben Geschüttelten: Um Songs für das neue Album zu schreiben, hat sich der 28-Jährige in die Einsamkeit der schottischen Insel Tiree geflüchtet. Dort Holz zu hacken und nachts am Strand zu joggen inspirierte ihn, erzählt er in Interviews.

Die neue Nachdenklichkeit zeigt er nicht nur in den Texten, sondern auch in ausgedehnten Pausen oder mit tiefen Blicken ins Leere. Ob der Tausch der bisweilen schon legendären weißen Röhrenjeans gegen schwarze ebenfalls Teil dieser Mutation ist, ist bislang allerdings noch nicht bekannt.

Erstaunlich ist, dass Charismatiker Borrell trotz dieser (melancholischen? exzentrischen?) Distanz dem Publikum ganz nahe ist. Anstelle von breiten Ansagen begnügt er sich mit einem kurzen Blick, einer kleinen Geste oder einem flüchtigen Lächeln. Und das wirkt. Razorlight traten auch schon im Wembley-Stadion auf. Kleinere Gigs wie in der dampfenden Tonhalle scheinen ihnen jedoch mehr zu liegen.

Begabter Musiker hinter der Glamour-Fassade

Bald legt der Lead-Sänger seinen Gehrock und den schwarzen Seidenschal ab. Unter all der Glamour-Fassade steckt doch in erster Linie ein begabter Musiker. In "Tabloid Lover" parodiert er mit blecherner Stimme seinen Ex-Bandkollegen Pete Doherty. Routiniert schreddern die vier Folk 'n' Roller die neue Single "Hostage of love". Auch der ab und an übersteuerte Sound gehört wohl zum Programm. Und ausgerechnet beim Chartstürmer "America" fällt das Mikrofon kurzfristig aus. Ohne Pause und mit schweißnassen T-Shirts rockt das britisch-schwedische Quartett rund 90 Minuten lang - und die Halle gleich mit.

Das gefällt auch der Omi im Publikum: Carola (56) steht in der ersten Reihe. Sie ist mit ihren Enkelkindern da - richtiger gesagt: "Die müssen das mit mir mitmachen". Als Borrell die Ballade "Wire to Wire" anstimmt, macht sie mit ihrem Handy viele Fotos. Allerdings muss im Speicher noch Platz bleiben: Für Thomas Godoj nächsten Monat.

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