100 Jahre Räterepublik:Eine sozialistische Revolution in München

Lesezeit: 4 min

Am 7. April 1919 greifen Arbeiter- und Soldatenräte nach der Macht. Doch weil sich die Kommunisten nicht anschließen, ist die junge Republik von Anfang an zum Scheitern verurteilt.

Von Heiner Effern

Am Tag des Umsturzes holen viele Arbeiter nicht die Waffen, sondern den Sonntagsanzug aus dem Schrank - dabei ist es ein Montag. Auf den Straßen fahren Lastwagen mit Soldaten, aber es wird nicht gekämpft. Familien flanieren auf den Trottoirs oder drehen eine Runde im Hofgarten. Die meisten bleiben wohl vor einer der Litfaßsäulen stehen, auf denen große rote Plakate kleben. "Baiern" sei von diesem 7. April an eine Räterepublik, heißt es dort. Die bisherige Regierung sei abgesetzt, und zu Ehren der neuen Staatsform werde an diesem Tag ein Nationalfeiertag ausgerufen.

Es ist ein schöner Tag. Die Sonne strahlt erstmals mit Frühlingskraft vom Himmel herab, die Gastgärten vor den Wirtshäusern sind schnell besetzt. Doch schon am Nachmittag gehen die Speisen und manchmal sogar das Brot aus. Wer zu spät kommt, muss sich mit einem Glas Bier, Limonade oder einer Tasse Kaffe begnügen. So beschreiben die Münchner Neuesten Nachrichten den historischen Tag. Sie stellen am Ende fest: "Im Reiche der irdischen Genüsse hatte aber auch die Räterepublik noch kein Paradies schaffen können."

Nach der Revolution
:"Die ganze jüngere Generation ist aus dem seelischen Gleichgewicht gekommen"

München 1919: Trümmer und Invalide in den Straßen, die Essensrationen sind erbärmlich, die Bauern liefern nicht. Gleichzeitig wird getanzt, gesoffen und gehurt. Und die Menschen werden empfänglich für radikale Ideen.

Von Stefan Mühleisen

Von Paradies kann ohnehin keine Rede sein im München des Frühjahrs 1919, darüber darf auch der Zeitungsartikel nicht hinwegtäuschen. Für viele bedeutet ein Glas Bier im Wirtshaus puren Luxus. Die Zahl der Arbeitslosen ist hoch, die Menschen machen sich Sorgen, ob sie überhaupt etwas Vernünftiges in den Magen bekommen. Die junge Demokratie wackelt mehr als je zuvor. Ministerpräsident Johannes Hoffmann (SPD) fährt nach Berlin, um Hilfe zu organisieren, nachdem er die Räte der Arbeiter, Bauern und Soldaten mit der Einberufung des Landtags provoziert hat. Die Augsburger Arbeiter drohen mit Generalstreik, der Unmut bei den Menschen wächst. Vielleicht ist so zu erklären, dass der Großteil der Münchner die sozialistische Revolution erst mal hinnimmt.

So malerisch, wie die Übernahme der Macht durch den Zentralrat in der Zeitung geschildert wird, läuft sie nicht überall in München ab. Auf der Theresienwiese unterhalb der Bavaria, auf der eine rote Fahne weht, haben die Kommunisten am Vormittag des 7. April eine Volksversammlung einberufen. Etwa 2000 Menschen kommen, und schnell wird hier ein Grund deutlich, warum die Episode dieser Räterepublik eine kurze sein wird: Die Kommunisten machen nicht mit. Mehrere Redner geißeln die "Scheinsozialisten", die von oben herab eine Räterepublik aufgesetzt hätten, anstatt von unten nach oben die Macht zu übernehmen.

Die Anführer des Umsturzes haben bis zum Vorabend der Ausrufung um die Mitwirkung der Kommunisten gekämpft. Vergebens. Schließlich treffen sich der Zentralrat, Abgesandte der sozialistischen Parteien, der Gewerkschaften und des Bauernbundes zu einer letzten Besprechung im Palais der Wittelsbacher an der Ecke Brienner- und Türkenstraße. "Wo früher Zofen und betreßte Lakaien herumwedelten, stapfen jetzt die groben Stiefel von Arbeitern, Bauern und Soldaten, an den seidenen Vorhängen der Fenster des Schlafzimmers der Königin lehnen Wachen, Kuriere, übernächtigte Sekretärinnen" schreibt der Literat Ernst Toller.

Zwölf Posten, sogenannte Volksbeauftragte, soll der neue provisorische Zentralrat der Regierung umfassen. Die Idee der Räteherrschaft unterscheidet sich deutlich von den Ideen der parlamentarischen Demokratie. Die Volksbeauftragten erhalten ihre Macht durch die überregionalen Räte der Arbeiter, Bauern und Soldaten, die von den gewählten Basisgremien auf der untersten Ebene bestimmt werden. Bei Missfallen können die Beauftragten sofort durch Beschluss der Räte ausgetauscht werden, um Korruption und Machtmissbrauch zu verhindern. Anders als Parlamentarier sind Räte nicht nur ihrem Gewissen verpflichtet, sondern an das Votum ihrer Basis gebunden. Kapitalisten und Unternehmer sind von der Wahl ausgeschlossen, eine Gewaltenteilung wie in der bürgerlichen Demokratie gibt es nicht. Der Aufbau der Räteherrschaft erfolgt von unten nach oben.

Nach langem hin und her sind am Morgen des 7. April alle Posten besetzt. Die größte Gruppe der Volksbeauftragten stellen die Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD), beteiligt ist auch der Bauernbund. Doch wie wacklig die neue Räterepublik schon bei ihrer Ausrufung ist, zeigen die Personalien. Martin Steiner (Landwirtschaft) und Johann Wutzlhofer (Ernährung) springen schon vor der Proklamation ab. Wenig überzeugt ist auch der Regierungschef, der Leiter des Zentralrats. Der Sozialdemokrat Ernst Niekisch tritt am 8. April zurück, Toller rückt nach. Wie unberechenbar die Besetzung der Posten verläuft, zeigt sich am Volksbeauftragten für Äußeres, Franz Lipp. Er ist den meisten unbekannt. Toller erkundigt sich bei einem Arbeiter, was Lipp qualifiziere. Dieser antwortet, der kenne den Papst persönlich.

Der Start in die Räterepublik ist friedlich, weil Polizei und Militär abwartend bis wohlwollend reagieren. Die Proklamation wird angeschlagen und öffentlich verlesen. Mit Telegrammen werden die Beamten in Bayern aufgefordert, ihren Dienst weiter auszuüben. Der Zentralrat erlässt eine Flut an Dekreten und Erlassen, um das neue sozialistische System umzusetzen. Die Zeitungen werden zensiert, ein Revolutionstribunal wird eingesetzt. Eine rote Armee soll gebildet werden, die Banken werden verstaatlicht. Ab dem 9. April sind große Auszahlungen verboten, "um zu verhindern, dass landesverräterische Kapitalisten ihr Geld ins Ausland verbringen", wie es in einem Dekret heißt. Bürger müssen ihre Waffen abgeben, das Proletariat erhält Gewehre. Die Hochschulen sollen sozialisiert werden, doch reaktionäre Studenten brüllen die Revolutionäre nieder.

Vieles bleibt bei Ankündigungen, die Glaubwürdigkeit der neuen Regierung sinkt. Einen besonderen Anteil daran hat der Volksbeauftragte Lipp. Er antwortet auf den Glückwunsch des sowjetischen Außenministeriums mit einer Depesche an Lenin. In dieser meldet der offenbar psychisch angeschlagene Mann, dass das Proletariat Oberbayerns glücklich vereint sei, der flüchtige Ministerpräsident allerdings den "Abtrittsschlüssel" mitgenommen habe, also den Toilettenschlüssel. Zur Sicherheit geht eine Kopie des Telegramms an den Papst. Dieser soll im Gegensatz zu Lenin, der besorgt nach den Erfolgen in Bayern fragt, nicht geantwortet haben.

Die Regierung Hoffmann hat freilich keinesfalls aufgegeben, sondern lediglich ihren Sitz ins sichere Bamberg verlegt. Sie macht der Räterepublik auf andere Weise als von Lipp befürchtet zu schaffen: Mit Unterstützern auf dem Land und mit Hilfe der Regierung in Berlin schneidet sie München von der Außenwelt ab. Die Bauern liefern kaum noch Lebensmittel, Telefon- und Postverbindungen werden gekappt, der Zugverkehr wird eingestellt. Die Zentralbank blockiert jeden Geldtransfer. Reaktionäre in der Stadt organisieren sich, die Regierung Hoffmann nimmt Kontakt auf. Sie selbst sammelt Truppen.

Der Druck auf die junge Räterepublik wird von allen Seiten größer. Die Kommunisten wollen eine wirkliche Revolution, andere planen die Gegenrevolution. Dem Zentralrat fehlt eine starke Legitimation, letztlich hat er sich selbst ernannt. Zudem fehlt einigen Revolutionären der Glaube. Am Proklamationstag schreibt etwa der Volksbeauftragte für Bildung Gustav Landauer, dass ihm womöglich nur ein paar Tage zum Regieren blieben, "und dann war es ein Traum". Sein Gefühl trügt ihn nicht. Es werden nicht mehr als sechs Tage.

© SZ vom 06.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

100 Jahre Freistaat Bayern
:"Majestät, genga S' heim, Revolution is"

Auf der Theresienwiese beginnt am 7. November 1918 die Revolution, die zur Gründung des Freistaats Bayern führt. Ein Überblick über die Münchner Schauplätze.

Von Wolfgang Görl

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: