Eva Zattler arbeitet seit 30 Jahren bei der Münchner Beratungsstelle von Pro Familia. Diese Organisation informiert bundesweit Frauen und Männer zu den Themen Sexualität, Familie oder Partnerschaft. Sie berät und begleitet auch Frauen, die ihre Schwangerschaft nicht weiterführen können oder wollen.
SZ: Sind Schwangerschaftsabbrüche heute noch ein Tabu?
Eva Zattler: Ja. Sehr viele Frauen, die hier in die Beratungsstelle kommen, sagen, dass sie über ihren Abbruch mit niemandem sprechen können.
Woran liegt das?
Während in den Siebzigerjahren prominente Frauen öffentlich von einem Schwangerschaftsabbruch berichteten, gibt es diese Öffentlichkeit heute nicht mehr. Die Gesellschaft verhält sich zu Schwangerschaftsabbrüche zunehmend inkongruenter. Nach außen gilt: Ein Abbruch ist unangemessen, es ist heutzutage immer möglich, ein Kind zu bekommen. Aber wenn eine Schwangerschaft dann wirklich besteht, merken viele, dass ein Kind doch nicht immer in die aktuellen Lebensumstände passt. So wird zwar die Oberfläche glatt gehalten, auf dieser spielt sich das Leben aber nicht ab, sondern darunter. Es wäre hilfreich, wenn Frauen ihre Probleme offen ansprechen könnten und mehr Unterstützung und Solidarität erfahren würden.
Ärzte dürfen in Deutschland nicht darüber informieren, dass sie Abbrüche anbieten. Berlin hat mittlerweile eine Liste mit Ärzten im Internet veröffentlicht. Gibt es solche Listen auch in München?
In Bayern bekommen Frauen diese Adressenlisten nur über ihre Krankenkassen oder über die Gesundheitsämter. Das Verfahren in den Gesundheitsämtern wird uns so beschrieben: Die Frauen bekommen eine Liste vorgelegt, dürfen sie aber weder abfotografieren noch kopieren. Sie dürfen lediglich drei Adressen per Hand herausschreiben. Das ist natürlich ein Vabanquespiel. Denn wenn die Ärzte nicht mehr praktizieren oder während der Ferienzeit schließen, hat die Frau Pech gehabt. Sinnvoller wäre es, wenn die Frauen hier in der Beratungsstelle diese Listen zur Verfügung gestellt bekommen könnten.
Welche Frauen kommen in Ihre Beratungsstelle?
Alle Frauen. Jeden Alters, aus allen gesellschaftlichen Gruppen und Lebenslagen. Ungefähr 20 Prozent der Schwangeren, die sich zu einem Abbruch beraten lassen, kommen mit ihrem Partner. Drei Viertel haben sich schon entschieden und ein Viertel entscheidet sich womöglich nach der Beratung noch anders.
Mit welchem Ziel beraten Sie die Schwangeren?
Wir sind eine durch den Staat finanzierte Beratungsstelle, deshalb ist das Ziel der Schutz des ungeborenen Lebens - auf der einen Seite. Auf der anderen Seite möchten wir, dass die Frau eine für sich gute Entscheidung treffen kann. Eine Entscheidung, die sie informiert trifft.
Wie präsent sind die "Lebensschützer", also die Abtreibungsgegner, in München?
Einmal im Monat demonstrieren sie hier vor dem Haus und halten ihre sogenannten bewegenden Versammlungen ab. Singend und betend mit Marienbildern in den Händen. Wenn es Gegendemonstranten gibt, werden sie auch noch von der Polizei begleitet. Das beeinträchtigt massiv den anonymen Zugang zu den Beratungsstellen. Wer hierherkommt, möchte in der Regel nicht gesehen werden. Einmal rief jemand von den Lebensschützern einer Frau zu: "Töten Sie Ihr Kind nicht!" Man muss sich mal vorstellen, was das für die Frau bedeutet. Die Stadt müsste ein Demonstrationsverbot für diese Leute vor der Beratungsstelle verhängen.
Was fordert Pro Familia politisch?
Wir fordern die Abschaffung des Paragrafen 219a, damit Ärzte bekannt machen können, dass sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Wir hoffen, dass sich Parlamentarier finden, die sich dafür einsetzen. In Irland konnten wir ja gut beobachten, dass die Mehrheit der Menschen anders dachte als das Gesetz.
Zwei Drittel der Iren stimmten im Mai für eine Legalisierung von Abtreibung.
Das ist sicher auch in Deutschland so. Langfristig wollen wir, dass die Paragrafen zum Schwangerschaftsabbruch aus dem Strafgesetzbuch komplett gestrichen werden. Die Frauen, die hierher kommen und die Gesetzeslage nicht kennen, sind ganz entsetzt darüber, dass das überhaupt im Strafgesetzbuch steht. Für sie ist das ihre persönliche Entscheidung. Wir von Pro Familia sind für eine Pro-Choice-Regelung. Das heißt nicht, dass wir für Abbrüche sind, sondern dafür, dass Frauen in ihrer individuellen Situation selbst entscheiden können, ob sie eine Schwangerschaft fortsetzen oder nicht. Das ist auch eine Frage der Mündigkeit.
Was müsste sich gesellschaftlich ändern?
Die Akzeptanz müsste steigen, so, dass Frauen einen Schwangerschaftsabbruch nicht mehr verheimlichen müssen. Es wird zu Abbrüchen immer unterschiedliche Haltungen geben, und niemand kann verlangen, dass alle der gleichen Meinung sind. Auch die Leute, die hier vor dem Haus demonstrieren, mögen ihre Gründe haben. Doch ich finde, sie sollten sie erstens nicht hier vor der Beratungsstelle äußern, wo sie Frauen in teilweise gravierenden Lebenssituationen beeinträchtigen. Und zweitens sollten sie anderen nicht vorschreiben, wie sie zu denken oder sich zu verhalten haben.