SZ-Serie "Bühne? Frei!":Den Gezeiten entgegenstemmen

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Kultur-Lockdown, Tag 40: Die Autorin findet, wir müssen die Gerechtigkeit verteidigen, so lang wir sie haben

Gastbeitrag von Petra Morsbach

Ende Oktober hatte ich eine Augenoperation. Zehn Tage lang hätte ich ohne mein Ersatzauge einen Blindenstock gebraucht, um mich in der eigenen Wohnung zurechtzufinden. Außerdem sollte ich zwei Wochen lang weder lesen noch schreiben. Zeit zum Nachdenken. Kurz zuvor hatte ich ein Filmdrehbuch begonnen. Denn Corona machte Recherchen für mein neues Buch ebenso unmöglich wie Lesungen für das eben erschienene, den Essay über Machtmissbrauch und Widerstand. Das Drehbuch hatte ich eigentlich nicht schreiben wollen, weil ich dafür keine Chancen sah. Zu viel dreht sich beim Film um Geld. Finanzspezialisten ringen jahrelang um Budgets, bis die Produktion zum Großteil aus Kalkulation und Kompromissen besteht. Ohne Geld keine Filmkunst, doch zu viel Geld frisst Kunst (Paradox). Eine gesunde Balance fällt dem Menschen schwer. Gerade dominiert das Geld, und je mehr es dominiert, desto devoter und schlüpfriger wird die Kunst. Eine kurzfristige Lösung gibt es nicht. Ebenso gut könnte man sich gegen die Gezeiten stemmen.

Wirklich alles ist paradox. Natürlich dachte ich auch über meinen Widerstands-Essay nach. Seine Grundfrage war gewesen: Können Unmächtige mit legalen Mitteln einem Machtmissbrauch abhelfen? Ergebnis: Im Prinzip ja - nie war das leichter als bei uns heute -, aber sie tun es nicht (Paradox). Woran liegt's? Feigheit? Antwort: Ja und nein. Einerseits will sich im Establishment keiner mit missbrauchenden Mächtigen anlegen, andererseits unterscheiden wir uns substantiell nicht von 10 000 Belorussen, die sonntags gegen Lukaschenko auf die Straße gehen. Frage: Worin besteht der Unterschied zwischen uns und ihnen? Antwort: in 26 Jahren Diktatur.

Meine Überlegung war gewesen: Warum Diktatur und Machtmissbrauch nicht einfach überspringen, indem man die Gerechtigkeit sofort verteidigt, gleich jetzt, da wir noch Zugriff auf sie haben? Wir müssten uns nicht mal verprügeln lassen! Und doch verteidigen wir sie nicht. Es ist dasselbe Balanceproblem, und es scheint übermächtig zu sein: Ebenso gut könnte man sich gegen die Gezeiten stemmen.

Während ich in dieser Weise überlegend halbblind durch die Wohnung wanderte, fügte sich in meinem Kopf das vernachlässigte Drehbuch zusammen, und als ich wieder schreiben durfte, erschien es in wenigen Tagen: so, wie es sein muss, tieftraurig und voller Zauber (Paradox). Kein Eigenlob: Trauer und Zauber verdanken sich dem (historischen) Stoff, ich fand lediglich den Rahmen und zog eine komische Ebene ein. Titel: Über die Liebe. Die Form ohne Absicht corona-gemäß: nie mehr als vier Schauspieler pro Szene, und nur zweimal hauchen sich zwei an.

Ich dachte: Warum das nicht einfach machen? Ein Kammerspiel ohne dreijährige Finanzierung, ein kleiner Film, leicht, profund und aufrichtig, weil er es sich leisten kann? Derzeit sind viele starke Schauspieler zum Nichtstun gezwungen. Corona als Chance, warum nicht? Wer schließlich soll sich den Gezeiten entgegenstemmen, wenn nicht die Künstler?

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© SZ vom 11.12.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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