Pasing:Der Geruch der verlorenen Heimat

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"Ich bin Balkanesin", sagt die Krankenpflegerin Dušanka Mihajlović-Peschke. In einem Buch begibt sie sich auf Spurensuche

Von Jerzy Sobotta, Pasing

An den Geruch erinnert sie sich am deutlichsten. Den Geruch eines Menschen, der aus dem Leben weicht. Dušanka Mihajlović-Peschke hat ihn schon oft gerochen. "Er erzählt die ganze Geschichte des ganzen bisherigen Lebens", sagt sie. Der Geruch komme von einem Ort, in dem zeitliche Existenz und Ewigkeit miteinander verschmelzen. Seit mehr als zwanzig Jahren arbeitet sie als Pflegerin auf der Intensivstation im heutigen Helios-Klinikum in Pasing.

Im Alter von 67 Jahren hat Mihajlović-Peschke nun ihr erstes Buch herausgegeben. Es ist eine Traumreise und eine Suche nach ihrer verlorenen Heimat: Nach dem kleinen Dorf, in dem sie ihre Kindheit verbrachte, nach den Tieren und Menschen, die es bevölkerten. "Ich bin Balkanesin", sagt sie. Geboren in Jugoslawien, einem Staat, der nicht mehr existiert. Bereisen kann man ihn nur noch in der Erinnerung. Und so ist auch "Das Kleid der weißen Rubine" aus dem Geruch einer Zwischenwelt geboren. Irgendwo, an einem fernen Punkt, an dem Traum und Realität verschmelzen.

"Das Buch hat mir erlaubt, Abschied zu nehmen", sagt Dušanka Mihajlović-Peschke. Die Krankenschwester schreibt gerne in Cafés. (Foto: Catherina Hess)

Als Kind lebte Mihajlović-Peschke in Lonjsko Polje, in der kroatischen Tiefebene. Lang und still fließt dort die Save durch das Land. Holzhäuschen aus einer längst vergangenen Zeit gab es an diesem Sehnsuchtsort. Wanderarbeiter, die ihre Heimat besingen, einen alten Straßendichter, der besonders gern bei Vollmond spricht. Ich saß öfters mit ihm in der Vollmondnacht auf der Straße und hörte ihm zu. Besonders faszinierend waren seine Kleider und die Art, wie er mit dem Messer aß. Gesänge jeglicher Art waren ihm bekannt, er spielte auf zwei alten Instrumenten, einer Flöte, die aus einem bestimmten Holz gemacht war und einer "Gusele", einer Art Geige. Sobald ich ihn hörte, raste mein Herz: Nichts wie hin, einfach hin. Der Straßendichter taucht immer wieder auf und gibt den assoziativ auseinandertreibenden Bildern einen Halt. Der ganze Text entwickelt sich wie ein Geruch: ohne scharfe Konturen, alles verliert sich. Doch beim Leser stellt sich ein Gefühl ein, dass etwas längst Vergessenes vor seinem inneren Auge lebendig wird.

Drei Jahre lang hat Mihajlović-Peschke an dem Buch geschrieben. "Es war wie ein innerer Drang, der mich die ganze Zeit getrieben hat", erzählt sie. Ob spät abends auf dem Heimweg unter dem schummrigen Licht der Straßenlaternen, oder bei Tagesanbruch im Café am Pasinger Bahnhof, der Schichtdienst lässt die Grenze zwischen Tag und Nacht verschwimmen. "Das Schreiben ist mir zum Ritual geworden", sagt sie. Immer hat sie einen Stift und ein Notizbuch zur Hand, übergibt sich dem Strudel der Erinnerung. "Manchmal blitzt etwas auf. Ich muss es niederschreiben, sonst geht es für immer verloren." Sie lässt die Bilder von einer Welt entstehen, von der sie sich nie verabschieden konnte. Sie fuhr stundenlang ohne jegliches Gefühl für die Realität. Sie erinnerte sich, dass der Straßendichter einmal sagte: Wenn du deine Heimat verlässt, egal, aus welchem Grund, dann sterben deine Wurzeln, du schaffst es irgendwie am Leben zu bleiben, auch, ein paar Dinge zu retten, aber ein Teil stirbt in dir für immer und kommt nie zurück. Niemals. Die mystische Landschaft wird immer wieder durchbrochen. Schlagbäume tauchen auf, traumatische Szenen an Grenzübergängen, Krieg, Gewalt und die ferne Wirklichkeit des Klinikums am "Pasing-River", so nennt die Autorin die Würm. Schon lange vor dem Krieg kam Mihajlović-Peschke zum ersten Mal nach Deutschland. Das war 1969 und sie eine junge Frau. Drei Jahre lang pflegte sie eine ältere Dame, machte in Tuttlingen, am Fuße des Schwarzwalds, eine Ausbildung zur Krankenschwester und arbeitete danach in einer Klinik in Heidelberg. Seit mehr als vier Jahrzehnten ist sie mittlerweile in ihrem Beruf und hat die schwierigsten Stationen gesehen: Herz-, Beatmungs- oder Intensivstation.

Ihre Kollegen sagen zu der Frau mit den Rastalocken nur "El Commandante". Das komme nicht von Che Guevara, sondern von den klaren Ansagen, mit denen sie Ordnung in die Station bringt, erzählt die Krankenpflegerin mit einem Lächeln. Trotz all des Drucks habe sie sich einen inneren Kompass bewahrt: "Es ist wichtig, dass wir uns die Zeit nehmen. Dass wir innehalten und achtsam bleiben. Wir müssen uns auf die Würde besinnen, die jedes Leben in sich trägt." Diese Suche nach der Wahrheit im Großen und im Kleinen durchzieht auch ihr ganzes Buch.

Über die Zeit des Krieges spricht sie nicht. Das war Anfang der Neunzigerjahre, sie pflegte ihre schwerkranken Eltern, bewegte sich zwischen Deutschland und dem zerfallenden Jugoslawien. "Es roch so seltsam vor dem Kriegsausbruch", erinnert sie sich zurück. "Und das Unglück kommt selten alleine." Sie erlebte die Bombardierung von Belgrad.

Ihre Eltern starben. Doch ein Visum für das Begräbnis der Mutter bekam sie nicht. "Daraufhin begann die Zeit der großen Einsamkeit." Ihr eigenes Leben wurde zu einem Zwischenraum, zu einem "Irgendwo", an dem sich Tod und Leben berühren. Der Straßendichter schrieb nieder im Staub der Straße: Alle Lebensfreude haben sie in uns ausradiert, aber das Gedächtnis nicht, das bleibt, in welcher Form auch immer, und wird weitergegeben. Die Schöpfung wird es jemandem einhauchen. Er seufzte, senkte den Kopf und fing an zu schnarchen. Viel Zeit ist seitdem vergangen, viele Verse hat sie seither geschrieben. Auf Deutsch, obwohl es nicht ihre Muttersprache ist. "Das Buch hat mir erlaubt, Abschied zu nehmen", sagt Dušanka Mihajlović-Peschke. Ihr nächstes Buch will sie "im Süden" schreiben, wo sie ein kleines Landgut mit Hühnern und Ziegen besitzt. Dort leben will sie allerdings noch nicht, denn dann müsste sie in Rente gehen. Dafür ist sie nicht bereit: "Das ganze Leben entwickelt sich. Aber meine eigene Metamorphose, die hat noch nicht stattgefunden."

© SZ vom 28.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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