Obermenzing:Der Menschensammler

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Mit dem Gläubigen auf Augenhöhe und dem Herrgott auf Duzfuß - nach 35 Jahren nehmen Pfarrer Klaus Günter Stahlschmidt und seine Obermenzinger Gemeinde Abschied voneinander

Von Jutta Czeguhn, Obermenzing

Es gibt Menschen, die wohnen schon Jahre in einem Haus und sitzen immer noch zwischen unausgepackten Kisten. Als lohne es sich nicht, Wurzeln zu schlagen. Hingegen scheint Klaus Günter Stahlschmidt jemand mit einem ausgesprochenen Talent, sich ein Zuhause zu gestalten, und das in Windeseile. Seit knapp fünf Wochen lebt Obermenzings scheidender katholischer Pfarrer in seinem Apartment am Peter-Keuder-Weg. Wer ihn dort besucht, hat nicht den Eindruck, dass da einer frisch eingezogen ist. Das gesamte Leben eines bald 75-Jährigen breitet sich da vor einem aus, ein ziemlich reiches Leben. Es ist, als hätte Stahlschmidt nie irgendwo anders gewohnt.

Hat er aber, 35 Jahre lang im Pfarrhof der Kirchengemeinde Leiden Christi, die ihm an diesem Sonntag, 24. September, 10 Uhr, einen großen, vermutlich sehr großen Abschied bereiten wird. Auch dort, im Herzen der Gemeinde, kam das Talent des Pfarrers zum Tragen, für sich und andere einen guten Ort zu schaffen: natürlich die Kirche, der denkmalgeschützte Bau aus den 1920er Jahren ist zu den Gottesdiensten stets gut besucht. Oder der Pfarrsaal vis-à-vis der Kirche, dort treffen sich regelmäßig an die 50 Gruppen, ein fester Stamm Ehrenamtlicher. Die Unterkirche unterm Turm, die Stahlschmidt zur Unterkunft für Obdachlose ausbauen ließ, und seine Pfarrwohnung, die immer offen stand für Menschen, die vorübergehend einen Unterschlupf brauchten. Im Laufe der Jahre waren es viele, Flüchtlinge, Mütter mit Kindern, an die 140 Personen insgesamt, mit denen er seine Küche teilte. "Ich sammle Menschen und gehe mit ihnen ein Stück des Wegs", sagt Stahlschmidt.

Klaus Günter Stahlschmidt hat es immer verstanden, zu gestalten. (Foto: Catherina Hess)

Die Sammelleidenschaft des Pfarrers scheint sich nicht auf Menschen zu beschränken. Die meisten dieser schönen Stücke in seinem neuen Zuhause, diesem sehr persönlichen Museum, wird man später erfahren, sind ihm ähnlich zugefallen wie die Wohnungslosen. Auch sie, versichert er, könne er sehr gut weiterziehen lassen. Doch vorerst gehören sie zu ihm: die Mineralien- und Fossiliensammlung, der Totenschädel als "Memento mori", das große Porträt eines milde dreinblickenden Johannes XXIII., gezeichnet von Hans Jürgen Kallmann, moderne Kunst, Ikonen, Stillleben, Rahmen an Rahmen, nach bester Petersburger Hängung. Die weiße Wand spitzt kaum mehr durch. Dazu Skulpturen, eine theologische Bibliothek mit antiquarischen Büchern, Kreuze aus allen Epochen, Vitrinen mit Rosenkränzen und frommen Wachsvotivtafeln, die Jesus-Darstellungen, die Buddhas.

Mit jedem Stück verbindet Stahlschmidt einen Menschen, ein Erlebnis, eine Reise. "Ich selbst bin schon lange hier angekommen", sagt der Pfarrer überzeugt, wie er überhaupt mit großer Aufgeräumtheit über sich selbst spricht. Mit dem Angekommensein meint er wohl gar nicht so sehr sein neues Zuhause, auch nicht die Pfarrgemeinde. Er spricht von seinem Leben, von der Berufung als Seelsorger, auch wenn der Weg dorthin - er wird ihn gleich ausführlich schildern - eine Reise mit einigen Zwischenstopps, Umbuchungen und gar Stornierungen war. Im Grunde seines Herzens, sagt er, sei ihm schon als Kind klar gewesen, wohin ihn sein oberster Chef - er steht mit ihm Don-Camillo-mäßig auf Duzfuß - führen würde. "Ich habe eine tiefe Gottesbeziehung." Es geht also um Berufung, und deshalb hat er nun die Geschichte vom Zinnkelch zu erzählen, die seine Gemeindemitglieder bestens kennen. Der Becher, ein ganz persönlicher Gral, er selbst benutzt dieses Wort natürlich nicht.

Das religiöse und soziale Leben in seiner Kirchengemeinde lag ihm besonders am Herzen. (Foto: Catherina Hess)

Aufgewachsen ist Klaus Günter Stahlschmidt in einem Dorf in der Nähe von Paderborn - eine stark männliche Umgebung, Großvieh, schwere landwirtschaftliche Maschinen, Ackerland. "Dazu habe ich nie Zugang gefunden", sagt er. Das Kind Klaus Günter ist klein, beinahe kleinwüchsig, zerbrechlich, eines von sieben Geschwistern. Die Eltern verwalten ein landwirtschaftliches Gut, sind gläubige Katholiken. Die Mutter, eine Frau mit stark sozialer Gesinnung, prägt dieses sensible Kind. "Sie hatte einen Blick dafür, wenn etwas nicht stimmte im Dorf", erzählt Stahlschmidt. Die erste Begegnung mit dem Zinnkelch: Der Banknachbar in der Realschule besitzt dieses liturgische Gefäß aus dem Dreißigjährigen Krieg. Stahlschmidt ist fasziniert, der 16-Jährige verbindet den schlichten Becher mit dem Leid der damaligen Bevölkerung, den Hungersnöten und Seuchen. Er will den Kelch vom Freund erwerben, der aber sagt nur: "Er ist unverkäuflich, aber er wartet auf dich."

Während der Kelch also wartet, geht Stahlschmidt seine Umwege: Nach der Realschule absolviert er die Handelschule, arbeitet später als Regierungsinspektor bei der Bundesfinanzbehörde, holt in dieser Zeit an der Abendschule das Abitur nach. Zur Seelenbildung verbringt er viel Zeit mit Menschen an den Randzonen der Gesellschaft, veranstaltet Freizeiten für straffällige Jugendliche, hat Kontakt zu Rockergruppen, die auf den jungen Mann vom Land irgendwie hören. Das bestärkt ihn. Nach dem Abitur quittiert er den Job bei der Behörde und beginnt, Theologie in Münster und München zu studieren. Doch Stahlschmidt hadert mit seiner "inneren Distanz" zur Institution Kirche. Noch einmal geht er einen Umweg, schreibt sich nach dem Theologiestudium für Kunst und Germanistik ein. Dieser Schlenker ist nötig, dadurch wird ihm klar: Die Seelsorge ist seine wahre Berufung. Klaus Günter Stahlschmidt ist schon Mitte 30, als er vom gerade frisch ernannten Münchner Erzbischof Josef Ratzinger zum Priester geweiht wird. Wo ist der Zinnkelch? Für seine Primiz möchte Stahlschmidt den Becher nun bekommen. Noch immer unverkäuflich, sagt der alte Freund. "Aber er hat auf dich gewartet, morgen schicke ich ihn dir mit der Post."

Um sein Zuhause in Obermenzing würde ihn so mancher Sammler von Sakralkunst beneiden. (Foto: Catherina Hess)

Spricht man mit Stahlschmidt über seine theologische Prägung, begegnen einem so unterschiedliche Kirchen-Figuren wie Johannes XXIII., Joseph Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI., der liberal gesinnte Wiener Kardinal Franz König oder Frère Roger von Taizé. Der Pfarrer stellt gerne sein gutes Verhältnis zu Ratzinger heraus, der verkannt werde und das Pontifikat eines Franziskus überhaupt erst möglich gemacht habe. "Wenn es Josef Ratzinger nicht gegeben hätte, wäre es zum Bruch in der katholischen Kirche gekommen", ist Stahlschmidt überzeugt. Er selbst sieht sich vom Zweiten Vatikanischen Konzil geprägt. "Ich weiß, was möglich ist, und was nicht", sagt er dazu ungewöhnlich knapp. Als er aber Anfang der Nullerjahre seine Pastoralreferentin das Evangelium verlesen lässt, ist man im Ordinariat not amused.

Von seiner lebendigen Basisgemeinde wird sich der Pfarrer nun zumindest von Amts wegen zum 30. September verabschieden. Bis zu zehn Gottesdienste konnten es schon mal an einem Wochenende sein, zudem Trauungen, Taufen. Als Dekan hatte er fünf Kirchen mit 14 000 Gemeindemitgliedern zu betreuen. Ob ihm das Loslassen schwerfällt? Stahlschmidt antwortet mit einem entschiedenen "Nein". Er glaubt, dass die Gemeinde nun gut ohne ihn weitergehen kann, auch wenn das den Leuten erst so langsam dämmere. Die Unterkirche mit den Obdachlosen gibt es schon seit einiger Zeit nicht mehr. Brandschutzprobleme. Vor allem aber, sagt Stahlschmidt, habe er seinem Nachfolger Ulrich Bach nichts aufoktroyieren wollen. In der Obdachlosen- und Flüchtlingshilfe will er sich jedoch weiter engagieren, ebenso für den Verein "Verwaiste Eltern" den Stahlschmidt einst mitbegründet hat.

Mit Klaus Günter Stahlschmidt verlässt die Gemeinde auch der Zinnbecher, aus dem die Obermenzinger Katholiken in all den Jahren ihre Hostien empfangen haben. Der ist nun endgültig angekommen und bekommt nun einen Platz bei ihm zu Hause.

© SZ vom 23.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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