Obergiesing:Wider die Entfremdung

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Kultur und Soziales: Die vierten Giesinger Gespräche beschäftigen sich mit der Frage, was das im Wandel befindliche Viertel zusammenhalten kann. Vor der Antwort steht eine Bestandsaufnahme durch die Bürger

Von Hubert Grundner, Obergiesing

Die Frage kommt fast schon harmlos daher. Am Ende des Abends aber entfaltet sie immer stärkere Brisanz: "Kultur und Soziales - Was hält das Viertel zusammen?" Unter diesem Motto lud die Volkshochschule am Dienstag zu den vierten Giesinger Gesprächen. Und wer meinte, dass Kultur und Soziales kein zwingend zusammengehöriges Begriffspaar bilden, was Moderator Winfried Eckardt als möglichen Einwand eingangs vorwegnahm, sah sich vermutlich bald eines Besseren belehrt: Bei fast allen Fragen zum Wesen der Stadtteilkultur kamen schnell gesellschaftliche und hier meist wirtschaftliche Aspekte ins Spiel.

Die Ausgangslage der rund 50-köpfigen Gesprächsrunde, mit geladenen Gästen und Besuchern im offenen Dialog, war also durchaus kompliziert. Darauf deutete bereits Eckardts Einschätzung zu Beginn der Veranstaltung, die vermutlich von der Mehrheit seiner Zuhörer geteilt wurde: Die soziale Schere gehe stärker auseinander als in früheren Jahren, und "die Gentrifizierung hat Giesing erreicht, wie ein Blick auf Immoscout zeigt". Die Explosion der Preise auf dem Miet- und Immobilienmarkt, die dort zu verfolgen ist, erklärte Eckardt mit dem ebenfalls explosiven Bevölkerungswachstum der vergangenen Jahre.

Die "Gepäckhalle" am Giesinger Bahnhof. (Foto: Lukas Barth)

So stellte Basilios Mylonas, früherer langjähriger Regsam-Moderator und jetzt Professor für soziale Arbeit an der Münchner Hochschule IUBH, zwar fest, dass in den Stadtbezirken 17 und 18 ein sehr großer Zusammenhalt existiere. Außerdem lebten hier teils ganz unterschiedliche Bevölkerungsschichten zusammen. Allerdings räumte Mylonas ein, dass das Empfinden der Menschen, bei ihrem Viertel handle es sich gewissermaßen um ein Dorf innerhalb der Stadt, langsam verschwinde. Diese fortschreitende Entwicklung, um nicht zu sagen, Entfremdung bestätigte Vera Dopfer, die Leiterin des Kindertageszentrums St. Martin. Wobei sie es in ihrer praktischen Arbeit auch mit den extremen Folgen der Gentrifizierung zu tun bekommt: "Die armen, die alleinerziehenden Menschen gehen einfach weg", sagte sie und meinte damit, dass ökonomisch Schwächere immer öfter aus dem Viertel verdrängt werden. Andererseits würden mit den zuziehenden Familien auch neue Ansprüche ins Viertel hineingetragen.

So entsteht eine in all ihren Verästelungen kaum noch zu erklärende Mischung aus Alt und Neu, Jung und Alt, Reich und Arm, bayerischen und nichtbayerischen Menschen und ihren jeweiligen Sorgen, Ängsten, Wünschen und Erwartungen. Darauf soll und will Stadtteilkultur reagieren. Wie zum Beispiel jüngst in Form des Kunstprojekts "Obdach", bei dem am Hans-Mielich-Platz ein Container aufgestellt wurde. Allerdings bewogen die zwischen den Bewohnern des Containers, also Obdachlosen, und den Nachbarn aufbrechenden Konflikte den Veranstalter, den Katholischen Männerfürsorgeverein, das Projekt frühzeitig zu beenden.

Im Jahr 2018 lief das Stadtteilfest "Ois Giasing" am Giesinger Grünspitz noch unbeschwert ab. (Foto: Robert Haas)

Winfried Eckardt verleitete dies zur Frage, was schiefgelaufen sei. Worauf Melly Kieweg, ihres Zeichens Kulturinitiatorin und Mitglied des Bezirksausschusses Untergiesing-Harlaching, lapidar antwortete: eigentlich gar nichts. Kunst habe ja die Aufgabe, der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten, den Finger in Wunden zu legen. Und das sei bei dem Projekt ja offenbar gelungen. Wobei sie, unabhängig von den Umständen, die zum Abbruch führten, eines dann doch ärgerte: "Es ist enttäuschend, dass sich Bürger nur einbringen, wenn ihnen etwas stinkt." Carmen Dullinger-Oßwald, Vorsitzende des BA Obergiesing-Fasangarten, ergänzte, dass man am Grünspitz ähnliche Erfahrungen gemacht habe. Da hätten einige wenige Anwohner versucht, das Projekt zu Fall zu bringen, aus Gründen, die sie nicht nachvollziehen konnte. Die Frage, die sich ihr angesichts des Widerstands gegen dieses und andere Kulturprojekte stellt, lautet für Dullinger-Oßwald daher: "Wie können wir es schaffen, solche Leute mit ins Boot zu holen?" Ihr sprang Basilios Mylonas zur Seite. Er kritisierte, dass oft wenige "Schreier" die Medien und damit die Diskussion beherrschten. Für Winfried Eckardt geht es letztlich um die Frage: "Wem gehört der öffentliche Raum? Das wird noch ein ganz starkes Thema werden."

Dabei erschöpfte sich der Abend nicht im Lamento über Fehlschläge, ganz im Gegenteil. Für gelungene Stadtteilkultur lassen sich gerade in Giesing viele Beispiele finden. Das fängt bei den Angeboten des 1979 gegründeten Vereins der Freunde Giesings an und setzt sich bis in die Gegenwart mit dem flamboyanten Kulturfestival "Ois Giasing" fort, das vergangenen Herbst geschätzt bis zu 50 000 Besucher anlockte. Wobei laut Eckardt aber manche gesagt hätten: Was hat das Festival, so schön es auch ist, mit Giesing zu tun? Worauf jetzt Thorsten Müller vom Quartiersmanagement antwortete, das entscheidende Kriterium bei einem solchen Event sei für ihn die Organisation. Und die lag in den Händen von Giesinger Akteuren.

Etwas Wasser in den Wein goss Joachim Lorenz, Münchens früherer Umweltreferent und heutiges BA-Mitglied. "Ois Giasing" spreche ganz bestimmte gesellschaftliche Gruppen an. Indirekt warnte er deshalb davor, den Begriff Stadtteilkultur als allgemeingültig definieren zu wollen. Schon in der ehemaligen Amisiedlung sei das Festival kein besonders angesagtes Thema gewesen. Und auch für "Ois Giasing" und den Zuspruch, den es gefunden hat, gilt aus Lorenz' Sicht: "Soziale Segregation spielt eine große Rolle", da dürfe man sich nichts vormachen. Wobei Segregation teils freiwillig stattfindet - wegen unterschiedlicher Vorlieben und Wünsche -, teils erzwungen wird - wegen Geldmangels beispielsweise. Neben die Liebhaber der Hochkultur treten mithin die Stammsteher am Giesinger Bahnhofplatz, und alle gemeinsam sind Teil der Großstadt. Bei der Nutzung des öffentlichen Raums geht es letztlich also immer auch um das Konfliktpotenzial zwischen unterschiedlichen sozialen Gruppen, das es, so Winfried Eckardt, zu berücksichtigen gelte.

Engelbert Dirnberger, Pfarrer von Heilig Kreuz, merkte selbstkritisch an, dass es auch der Kirche nicht leichtfalle, die Menschen am Rand der Gesellschaft zu erreichen und ihnen - auch - kulturelle Teilhabe zu ermöglichen: "Unsere Klientel ist, ehrlicherweise, das Bürgertum." Und unter Umständen finden sich darunter genau diejenigen, die soziale Einrichtungen in ihrer Nachbarschaft ablehnen. In seiner Arbeit gehe es darum, die Härten der Gentrifizierung zumindest abzufedern.

Nach Dirnberger folgten noch viele weitere Wortmeldungen. Zumindest als Denkanstöße dürften sie in Erinnerung bleiben. Das gilt auch für Martin Rothenaichers Beitrag, dem eine Art Schlusswort gelang. Bekannt leidenschaftlich wies der Rektor der Ichoschule auf die Bedeutung der Giesinger Schulen hin: Wer möglichst viele Menschen erreichen wolle, um die Bedeutung von Kultur und Sozialem zu vermitteln, der müsse nur in die ersten bis vierten Klassen gehen. Denn, so Rothenaicher: "Wir sind eigentlich keine Schulen mehr, sondern Lebenshäuser." Viele Familien kämpften "ums nackte Überleben". Die Gesellschaft solle ihre Ressourcen in die Schulen stecken: "Der soziale und kulturelle Zusammenhalt beginnt in der Schule."

© SZ vom 30.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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