Null Acht Neun:Ungerührt und durchgewuschelt

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Je kälter es wird, desto voller die U-Bahnen - mit stillsitzenden Smartphone-Wesen. Da kommt ein Lied, gebrüllt aus vollstem Herzen, gerade recht

Kolumne von Laura Kaufmann

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Aber es ist jedem Einzelnen überlassen, sie sich selbst zu nehmen. An warmen Tagen waren in der Stadt etwa neben johlendem Sonnenstraßenpartyvolk erstaunlich oft Anzugträger auf E-Scootern zu sehen. An heißen Sommertagen eventuell deshalb, weil sie auf dem Weg zu einem wichtigen Termin Schweißflecken durch die Anstrengung des Radfahrens vermeiden wollten - auf einem E-Scooter ist das Schweißrisiko geringer. Wie eine Galionsfigur steht man dort ungerührt am Lenker. Es gibt aber nur wenig, was alberner aussieht als ein vornehm gekleideter, erwachsener Mensch auf einem knallbunten Elektrospielzeug, das sich in Schneckentempo über die Straße schiebt.

Die Stadt wirkt mit all den Scootern und Elektrorädern an unmöglichsten Orten nach wie vor, als hätte ein trotziges Kleinkind seine Legokiste über ihr verschüttet. Nun, da es immer kälter wird, werden die Stolperfallen wohl weniger benutzt: Auch auf einem E-Scooter werden Hände, Nase und Ohren kalt. Und anders als auf einem Fahrrad wird dem Benutzer nicht durchs Treten warm. Wobei ab morgendlichen Temperaturen unter fünf Grad nur noch die wirklich zähen Hunde zur Arbeit radeln, einen Schal übers Gesicht geworfen; der Münchner, im Herzen ein Norditaliener, friert nicht gern. Die Schönwetterradler überlassen also nach und nach den wenigen Durchhaltenden die neuen Radspuren und bewegen sich einen Stock tiefer in den Untergrund. Plötzlich konfrontiert mit dieser Flut an Mitmenschen in der U-Bahn, neigt der Münchner auf der Suche nach Privatsphäre sein Haupt über das Smartphone und erstarrt in dieser Haltung, sitzend oder stehend. Fast, als stünde er auf einem E-Scooter.

Aufgerüttelt wird dieses U-Bahn-Stillleben nur, wenn plötzlich einer den Waggon betritt, der von dem stillschweigenden Übereinkommen, einander in öffentlichen Verkehrsmitteln in Ruhe zu lassen, offenbar nichts mitbekommen hat. Ein Verrückter eben. "Bitte nicht ich", stöhnt der Waggon kollektiv innerlich auf, und meist wird zielstrebig derjenige angesteuert, der am angestrengtesten versucht, in seinem Smartphone zu versinken. Aber dann fängt der so skeptisch beäugte Mann mit der Bierflasche in der Hand einfach aus vollstem Herzen an zu singen. So fröhlich, dass sich hie und da ein verstohlenes Lächeln ausbreitet. Wuschelt jemandem übers Haar, aber keiner kann es ihm übel nehmen. In einem Waggon voller elektronisch abgeschotteter Menschen, Kopf gesenkt und Stöpsel in den Ohren, wirkt er plötzlich nicht wie der Verrückteste, sondern wie der Vitalste von allen. Wie einer, für den nicht die Privatsphäre, sondern die Lebensfreude unantastbar ist.

© SZ vom 02.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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