Null Acht Neun:Überall diese kaputte Sichtachsen

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Hochhäuser sind des Teufels, das wussten sie in München schon immer. Dabei können die umstrittenen neuen Pläne für die Türme an der Paketposthalle auch geradezu himmlisch interpretiert werden

Glosse von Ulrike Heidenreich

Es war gegen Ende des vergangenen Jahrtausends, da brach Georg Kronawitter selig zu einer wundersamen Reise auf. Damals dachten die Leute in der bayerischen Landeshauptstadt noch, der Teufel käme über sie, wenn sie in menschengemachten Häusern wohnten, die höher als 98,57 Meter waren. Höher als die Türme der Frauenkirche, deren Zwiebelhauben weithin grünlich über die Dächer schimmerten. Kronawitter, einst SPD-Oberbürgermeister, war an der Seite dieses gottesfürchtigen Volks. Kraft seines Amtes ließ er damals Kräne als Simulationsobjekte aufstellen, 110, 130 Meter und noch mehr hoch. Er packte ein paar Fachleute in einen Bus und fuhr mit ihnen fröhlich die Stadt ab.

Und was offenbarte sich? Mehr Schatten als Licht. An der Donnersbergerbrücke zum Beispiel, wo ein deutlich über 98,57 Meter hohes Haus entstehen sollte, warf der Kran finstere Schattenbilder, ja, auf die Bahngleise. Schwierig. Woanders kratzte ein Kran deutlich hörbar an den Wolken - und dann überall diese kaputten Sichtachsen! Herrje. Schnell war man in unserer kleinen Stadt davon überzeugt, dass auf hohen Häusern kein Segen liegen könne. Und so kam es Anfang dieses Jahrtausends zum Bürgerentscheid, wonach Münchner Hochhäuser auf die Turmhöhe der Frauenkirche von 100 Metern begrenzt sein sollten.

Der "rote Schorsch", der nicht nur gegen windumtoste Häuser kämpfte, sondern auch für soziale Gerechtigkeit, hätte sich wohl nie träumen lassen, dass der Mammon auch in niedrigere Gebäude einziehen kann. Etwa ins 54 Meter hohe "The Seven", dem umgebauten Heizkraftwerk, wo ein Quadratmeter auch mal für 22 000 Euro den irdischen Besitzer wechselt. Eher nichts für arme Büßer.

Seitdem haben Baudamen und Bauherren sowie die Architektenzunft ein Problem, wenn sie in München Projekte in Angriff nehmen möchten, bei denen der Fußboden des obersten Geschosses 22 Meter über der natürlichen Geländeoberkante liegt. Das ist nach Baurecht die Definition für ein Hochhaus. Es kommt dann regelmäßig zu Diskussionen, dass einem schwindelig wird. Gerade passiert dies wieder bei den 155-Meter-Doppeltürmen, die neben der denkmalgeschützten Paketposthalle aus dem Boden wachsen sollen. Zwei Schräglifte, die die Türme umarmen, sorgen bei manchen für Schrecken und Unverständnis. Dabei liegt der Sinn des spektakulären Entwurfs doch auf der Hand: Es handelt sich eindeutig um Himmelstreppen. Nur Mut also.

© SZ vom 12.06.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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