Null Acht Neun:Kommt! Kauft! Esst! Fliegt!

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Kaum ist die verhasste Corona-Leere vorbei, fällt einem auf, wie schön sie doch eigentlich gewesen ist

Kolumne von Christiane Lutz

Wochenlang war man gut damit beschäftigt, zu klagen, was man alles nicht haben konnte: kein Kino, kein Restaurantbesuch, kein Rumgedrücke in der übervollen Favoritbar mit fröhlichem Gläsertauschen. Kein Theater, auch das nicht. Ein Versuch, sich die Aufzeichnung einer historisch wertvollen Inszenierung aus den 1980er-Jahren anzuschauen, endet mit der Erkenntnis, dass man immerhin hervorragend dazu kochen kann. Dabei war das Leben bis vor einer Weile doch noch so übervoll. Dann: alles futsch. "Im Klo runter gespült", sagte Matthias Lilienthal, der scheidende Intendant der Kammerspiele, in einem Interview, einfach im Klo runtergespült sei sein altes Leben. Das bestand bei ihm, wie bei vielen anderen, vor allem aus herumrennen und mit sehr vielen Leuten reden. Damit klar zu kommen, dass das jetzt das Klo runter gespült ist, war schwer. Verlustgefühle, innere Leere. Manche rasierten sich aus Hilflosigkeit den Kopf, andere sich überhaupt nicht mehr.

Jetzt ist die Leere vorbei. "Hurra, wir machen wieder auf" schreiben Theater, Restaurants, Minigolfanlagen, Naherholungsgebiete. Sommerurlaub möglich, von München aus kann man nun wieder nach Los Angeles fliegen, sollte man das Bedürfnis danach verspüren. Zahlreiche Mails fordern heiter bis aufgepeitscht auf: "Kommen Sie vorbei! Alles fast wie früher!" Oft klingt zwischen den Zeilen auch die blanke Überlebenspanik. Verständlich, hängt doch die Existenz vieler Menschen an dieser Wiedereröffnung. Kommt! Kauft! Esst! Fliegt! Längst vergessene Freunde kriechen wieder hervor und wollen plötzlich was Trinken gehen. Und die eigenen Eltern haben Corona sowieso immer für was aus der Großstadt gehalten. Wann dürfen wir zu Besuch kommen? Wer jetzt zuhause bleibt, ist ein schlechter Mensch.

So zieht man den Kalender hervor, den man seit März nicht mehr aufgeschlagen hatte - und plant. Schon die Wiedereröffnung der Theater stürzt einen direkt in eine organisatorische Krise. Gärtnerplatztheater oder Kammerspiele? Wann ist das eine aus, vielleicht schafft man ja beides? Und das Lieblingsrestaurant, das muss man ja unterstützen. Auch wenn der Typ am Nebentisch so laut spricht, dass er einem sein Aerosol gleich in den geöffneten Rachen pusten könnte. Entnervt geht man nach Hause, wo die Nachrichten am Handy blinken. "Brunch am Feiertag?", "Willkommen zurück in deinem Fitnessstudio!" Ach, wie schön war das, neulich, als einfach nichts los war.

© SZ vom 06.06.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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