Null Acht Neun:Fenster zum Hof

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Es gilt als modern, in komplett verglasten Gebäuden zu wohnen. Das wirft allerdings neue, knifflige Benimmfragen für die Nachbarn auf

Von Johan Schloemann

Ich habe ein Fenster zum Hof. Wenn ich einmal wie James Stewart in dem gleichnamigen Hitchcock-Film mit einem Gipsbein ans Zuhause gefesselt sein sollte, dann hätte ich wirklich viel zu sehen. Ja, ich könnte noch viel besser den Voyeur spielen als seinerzeit Jimmy Stewart beim Aufspüren verdächtiger Vorgänge im Nebengebäude. Das liegt daran, dass das Hinterhaus, ein Neubau, komplett verglast ist. Die Wände der Wohnungen, auf die ich schaue, sind vorne wie hinten von oben bis unten und von links nach rechts aus Glas. Meine Nachbarn leben in einem Aquarium.

Das Aquarium wird gerade erst langsam bezogen, aber ich habe bereits, ganz unfreiwillig natürlich, behaarte Männerbeine von unten gesehen. Ein Anblick, der einem bei traditionellerer Bauweise erspart bliebe. Nun können die Nachbarn zwar, wenn sie die Scham packt, Jalousien runterlassen. Aber sie müssen sich entscheiden: entweder ganz zu oder ganz auf. Für diese Wohnungen gibt es nur zwei Outfits: Entweder Burka, ohne Sehschlitz. Oder FKK.

Was man im Städtebau Verdichtung nennt, ist hier also visuell ausgesprochen undicht. Wir Anwohner des Aquariums werden damit kniffligen Benimmfragen ausgesetzt. Soll man hinschauen? Gibt es Beziehungsstreit? Was läuft da auf dem Riesenflachbildschirm? Wie oft umringen fröhliche Menschen mit Champagnergläsern den frei stehenden Küchenblock? Tanzt da nicht gerade die Frau aus der Almased-Werbung? Ist das zu neugierig? Aber verstohlen den Blick zu senken, wäre ja auch verklemmt, schließlich wird niemand gezwungen, so ein Schaufensterleben zu führen. Weswegen ich geneigt bin, weiterhin aufrechten Kopfes in den Hof zu schauen.

Die Vollverglasung auf engstem Raum hat auch Vorzüge. Tagsüber kommt mehr Tageslicht in den Hof, und wenn es dunkel wird, erfüllt ein Hintergrundleuchten alles. Das wirkt sehr urban, wie in einem mehrstöckigen Designerlampenkaufhaus. Vor allem aber bietet diese Ultratransparenz die Gelegenheit, sich als guter Mitmensch in die möglichen Sorgen anderer Menschen einzufühlen. Und was ist die größte Münchner Sorge innerhalb des Mittleren Rings? Platzprobleme natürlich. Deshalb frage ich mich als Aquariumsbetrachter die ganze Zeit, und das ist jetzt wirklich völlig ohne Häme gemeint: Wann wird man durch diese Glaswände den ersten Computerkabelsalat auf der Rückseite eines Schreibtisches sehen? Wann das erste unbehandelte Holz von Schrank- oder Regal-Rückwänden? Wann den ersten Wäscheständer? Wann die ersten Altglaskisten, Spielzeughaufen und Windelmülleimer?

Städtisches Wohnen muss immer zwischen Offenheit und Geschlossenheit austariert werden. In München führt das zu besonderen Reibungen zwischen Alltag und Architektur. In einer Immobilienwerbung heißt es bezeichnend: "Das Fenster als Möbel!" Wer zeitgemäß wohnen will, heißt das, muss sich offenbar von der altmodischen Idee verabschieden, er könne beides haben: Fenster und Möbel.

© SZ vom 25.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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