Null Acht Neun:Einsam im Baumarkt

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Die Corona-Krise bietet die Gelegenheit, zu Hause endlich einmal lange unerledigte Dinge anzugehen - doch auch dabei lauern Gefahren

Kolumne von Wolfgang Görl

Jetzt, da das Coronavirus die Stadt lahmlegt, da es als verwegen gilt, neben anderen Menschen in der Trambahn Platz zu nehmen und allein der Gedanke, im Theater zu sitzen, heftigeres Grauen hervorruft als die erschütterndste Tragödie, jetzt also ist es Zeit, zu Hause zu bleiben und unerledigte Dinge abzuarbeiten. Zum Beispiel der Wasserhahn, der seit drei Jahren tropft: Es gab mal einen Versuch, einen Klempner zu Rate zu ziehen. "Mach ich", sagte der, "aber vor Juni 2026 geht gar nix." Enttäuschend auch die angeblich guten Freunde, die, anstatt tätige Hilfe zu leisten, einfach nur empfahlen, die Dichtung auszuwechseln. Welche Dichtung überhaupt? Es stellte sich heraus, dass die einschlägige Ratgeberliteratur, ein Fachbuch namens "Dichtung und Wahrheit", so gut wie gar nichts Brauchbares zur Reparatur tropfender Wasserhähne enthielt. Offen gesagt: ein Riesenbeschiss, das Buch.

Immerhin, eine Internet-Recherche hat ergeben, dass es Dichtungen in allen möglichen Größen, Stärken und Farben gibt. Das ist eine niederschmetternde Botschaft, denn nun ist das Worst-Case-Szenario bittere Realität: Man muss einen Baumarkt aufsuchen und fachlichen Rat einholen. Schon klar, dass dieser Satz bei allen, die jemals in einem Baumarkt waren, homerisches Gelächter hervorruft. Abgesehen vom Nordpol und einigen menschenleeren Inseln im Pazifik gibt es keinen Ort auf der Welt, an dem man sich so verlassen fühlt wie im Baumarkt. Gewiss, in ganz seltenen Momenten ist ein Fachberater zu sehen, der im Schweinsgalopp und beharrlich auf den Boden stierend durch die Regalreihen hastet; aber kaum hat man die Verfolgung aufgenommen, ist er wie vom Erdboden verschluckt. Sofern die Baumarkt-Verkäufer nicht von Natur aus imstande sind, sich in Luft aufzulösen, gibt es nur eine Erklärung: Die Märkte verfügen über gut getarnte Geheimtüren, so wie sie auch in alten Burgen und Palästen zur Flucht vor dem Feind oder als Versteck für den außerehelichen Galan eingebaut waren. Sobald ein Kunde auftaucht, verschwindet der Fachberater hinter der Tür, wo schon die Kollegen warten, die einen vierten Mann zum Schafkopfen brauchen.

Versierte Baumarkt-Kunden kommen im Familienverband zum Einkauf und riegeln die Regalreihe, in der sich gerade ein Verkäufer befindet, handstreichartig von beiden Seiten ab. Diese Leute betrachten den Mann fortan als ihren Gefangenen, den sie erst freilassen, wenn er sämtliche Tapeten vor ihnen ausgerollt und mit einem fachlichen Urteil versehen hat. Das dauert bis zum Feierabend, für alle anderen Kunden ist der Gefangene verloren. Ist aber egal, denn was der Tapetenmensch zur Dichtungsproblematik zu sagen hätte, liegt ohnehin auf der Hand: "Da müssen Sie den Kollegen fragen." Besonders hilfreiche Verkäufer rufen den Kollegen sogar an und verkünden: "Kollege kommt gleich." Wer jetzt den Fehler macht, auf den Kollegen zu warten, wird einen ganzen Tag sinnlos im Baumarkt verbringen. Andererseits: Was soll man sonst machen in dieser finsteren Zeit?

© SZ vom 14.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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