Null Acht Neun:Ein ganz spezieller Duft

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Stehhalbe, Wegbier und Wildbiesler gehören ebenso zu München wie Ammoniak-Odeur zum erweiterten Umfeld von Kiosken. Ein Glück, dass Bäume nicht sprechen können

Kolumne von Andreas Schubert

Die sogenannte Stehhalbe bot früher auch finanziell Minderbemittelten die Gelegenheit zum wohlverdienten Rausch. Vielerorts gab es Gassenschänken, die das Bier etwas günstiger als im Lokal verkauften, dafür hatte man dann halt keine Bedienung, keinen Sitzplatz und oft auch keinen Abort, weil der den anderen Gästen vorbehalten war. Die meist männlichen Gassenschänkentrinker störten sich nicht weiter daran und markierten ihr Revier, Hundlinge wie sie eben waren, am nächsten Baum. Manche behaupten, der Begriff Gassigehen sei gar erst auf diese Schänken zurückzuführen.

Das ist lange her. Gassenschänken sind heute nur noch sehr rar gesät, doch während des Corona-Lockdowns erlebten sie unter dem Namen Kiosk eine unverhoffte Neubelebung. Weil die Gastronomie dicht bleiben musste, benannte sich die eine oder andere Kneipe flugs in Kiosk um und schenkte ihren Stoff zum Mitnehmen aus.

Je mehr Bäume und Sträucher im näheren Umfeld zu finden waren, desto öfter zog es die Kunden - auch die weiblichen - wieder und wieder an die Verkaufstheke. Auch alteingesessene Institutionen wie der Kiosk an der Reichenbachbrücke, seit vielen Jahren eine beliebte Anlaufstelle für Durstige, profitierten von den geschlossenen Kneipen. Zeitweise war die Gegend um den Kiosk herum noch beliebter, als sie es eh schon immer war. Man trank auf, unter und neben der Brücke, das Abräumen erledigten Flaschensammler anstelle von Bedienungen.

Bei diesem Service lernten unerfahrene Kiosk-Kunden schnell, dass es ein Fehler ist, noch halb volle Flaschen achtlos neben sich auf den Boden zu stellen. Aber Nachschub gab's eh genug. Und wer schon zum Holen unterwegs war, verschwand zwischendurch immer wieder mal in der Grünfläche. Könnte man die Bäume an der Wittelsbacher- und Erhardtstraße befragen, wie sie sich dabei fühlten, würden sie wohl wenig freundlich antworten: "Na wie schon? Angepisst halt!"

Nun zählen Bäume bekanntlich zu den weniger redseligen Arten, weshalb man nicht so genau weiß, was sie jetzt von der Wiedereröffnung der Lokale samt deren integrierten Bedürfnisanstalten halten. Jubeln würden sie vermutlich eher nicht. Denn Stehhalbe, Wegbier und Wildbiesler werden auch weiterhin ebenso zu München gehören wie Ammoniak-Odeur zum erweiterten Umfeld von Kiosken. Weil die Natur sich immer seltener erbarmt und die Regenspülung zieht, ist der an bestimmten Uferabschnitten der Isar schon seit Jahren die dominante Duftnote des Sommers.

© SZ vom 05.06.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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