Null Acht Neun:Die Seele der Stadt

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München ringt gerade mehr denn je mit sich, ob es eine Großstadt im wirklich großstädtischen Sinn sein will

Von Johan Schloemann

Nein, eigentlich hat eine Stadt keine Seele. Sie hat Häuser, Straßen, Leute, Geschäfte, Plätze, Institutionen, Parkscheinautomaten und Zigarettenkippen. Und immer mehr Fernseher, die so groß sind, dass man durchs Fenster von der Straße aus mitschauen kann.

Besonders München aber ist eine Stadt, die an vielen Orten keine Seele zu haben scheint. Im Moment rumort da gerade ein gewisser Unmut über die Urbanitätslücken der Stadt: Einerseits soll sie zur vibrierenden Zweimillionenstadt anwachsen - siehe den Artikel hier rechts. Andererseits wundern sich die kreativen Eliten, und die unkreativen tun es auch, wie es hier ziemlich innenstadtnah Ecken geben kann, in denen man einen einzigen netten Laden findet, aber dann wieder Hunderte von Hausnummern lang gar nichts, bis erst wieder ein Laden kommt, der vielleicht nicht ganz so nett ist. Und warum es Busse gibt, die werktags nur alle zwanzig Minuten kommen. Im Vergleich mit internationalen Metropolen sieht das nicht gut aus. Diese erfrischende Klage über zu viel Provinzialität und Sterilität mitten im angeblich so südländischen Flair spricht sogar auch denen aus dem Herzen, die sonst zu viel Gentrifizierung und teure Wohnungen schlimm finden. Dabei ist Gentrifizierung nun mal genau das: mehr nette Läden.

So oder so aber ist das Seelenproblem nie als Ganzes, nie im Blick auf die Totalität der Stadt fassbar - sie ist ja keine Person, auch wenn wir sie zur einfacheren Charakterisierung liebend gerne wie eine Person beschreiben; und selbst über eine Person lässt sich meist nicht nur eine einzige Wesensaussage machen. Es ergibt sich vielmehr aus unzähligen Interaktionen im sozialen Gewimmel, wie es der Soziologe Georg Simmel in seinem wegweisenden Aufsatz "Die Großstädte und das Geistesleben" von 1903 beschrieben hat: "Die psychologische Grundlage, auf der der Typus großstädtischer Individualitäten sich erhebt, ist die Steigerung des Nervenlebens, die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht."

Ich habe den Eindruck, dass München gerade mehr denn je mit sich ringt, ob es eine Großstadt in einem solchen wirklich großstädtischen Sinne sein will. Als ich vor bald dreizehn Jahre hierher zog, hatte ich aufgrund einiger Stichproben gar nicht solche Erwartungen an München. "Steigerung des Nervenlebens" schien es mir nicht gerade auszustrahlen. Man fand auch noch eher selten, was Georg Simmel als ein weiteres Großstadt-Kriterium nannte: "Eben jene Blasiertheit, die eigentlich schon jedes Kind der Großstadt im Vergleich mit Kindern ruhigerer und abwechslungsloserer Milieus zeigt".

Seitdem jedoch ist München größer, internationaler und, was nicht nur negativ klingen sollte, blasierter geworden. Um so mehr müssen da eben die Kontraste und Defizite auffallen: ein immer engeres Zentrum, draußen schöne Landschaft und dazwischen viel trostloser Siedlungsbrei. Und den einen gehen die Veränderungen nicht schnell genug, den anderen viel zu schnell. Selbst jede einzelne Seele scheint da nicht mit sich einig zu sein.

© SZ vom 06.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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