Null Acht Neun:Betreutes Pöbeln

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Das Bedürfnis nach Granteln ist in München riesig. Die Stadt sollte geeignete Orte schaffen, an denen man unbehelligt dieser Leidenschaft nachgehen kann. Entgiften durch Angiften, sozusagen

Kolumne Von Christiane Lutz

Liesl Karlstadt hat es nicht leicht. Soubrette wollte sie werden, da sagte ihr Karl Valentin, sie solle sich lieber aufs Komische verlegen. Dann wurde sie ewig nur als sein ulkiger Sidekick wahrgenommen. Am Viktualienmarkt plätschert seit 1961 ein Brunnen, auf dem eine kleine Statue von ihr steht - und jetzt treffen sich dort regelmäßig ein paar Bierselige und kühlen ihr Helles in Liesls Wassern. Und wo viel getrunken wird, da wird auch viel gewankt, gegrölt und geschimpft. Die Liesl, die Standlbetreiber und Marktbesucher fühlen sich gestört, doch der Versuch von Kommunalreferentin Kristina Frank, ein Pöbel-Verbot zu erlassen, scheiterte in dieser Woche.

Nun ist es nicht Aufgabe der Stadt, das öffentliche Schimpfen zu verbieten, sie sollte den Bierseligen sowie allen anderen am Schimpfen Interessierten lieber geeignete Orte schaffen, an denen sie unbehelligt ihrer Leidenschaft nachgehen können. Das Bedürfnis nach Granteln, Maulen, Pöbeln ist riesig, Anlässe gibt es ohne Ende: 45 Minuten in der S-Bahn im finsteren Tunnel feststecken, in der Kantine das letzte Paar Wiener vor der Nase weggeschnappt kriegen, Thomas Müller fliegt aus der Nationalmannschaft. In Deisenhofen war man monatelang mit Schimpfen beschäftigt, weil die Bahnhofsuhr auf zehn nach drei stehen geblieben war. Nun ist zehn nach drei nicht mal die schlechteste Uhrzeit - besser als kurz vor zwölf und alle Uhrzeiten, in denen eine sechs vorkommt, das erinnert an frühes Aufstehen - trotzdem wollte man lieber eine Uhr, die sich bewegt. Es bedurfte einer langwierigen Recherche, um zu klären, wer für die Reparatur der Uhr zuständig war - Gemeinde oder Bahn (die Gemeinde). Sehr ärgerlich für sehr viele. Für den Reflex zu schimpfen muss sich in dieser Stadt niemand schämen, ihn unterdrücken erst recht nicht, egal, was der Yogalehrer auch sagt. Geschützte Räume für betreutes Pöbeln würden sonst frei umherschwirrenden Grant sinnvoll kanalisieren. Die Volkshochschule müsste Workshops wie "Granteln für Fortgeschrittene", oder "Schimpfen wie ein Radfahrer, dem ein Autofahrer die Vorfahrt genommen hat" anbieten. Im Englischen Garten könnten sich Verärgerte einmal wöchentlich zum heilsamen Gruppenpöbeln zwischen 17 und 20 Uhr verabreden, das reinigt Geist und Körper. Entgiften durch Angiften, sozusagen. Am Brunnen herrschte wieder Frieden. Und Liesl, Liesl hätte endlich Ruhe.

© SZ vom 23.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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