Neuhausen:Selbstbewusst sichtbar werden

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Bei der Freien Bühne München arbeiten Menschen mit und ohne Beeinträchtigung in einem Ensemble

Von Jana Heigl, Neuhausen

Wenn Luisa Wöllisch zwischen einer aufblasbaren Plastikpalme und einem quietschrosa Flamingo auftaucht und über die Bühne schleicht - dann hält man den Atem an. Sie spricht gleichzeitig sanft und doch mit klarer, fester Stimme, taucht nicht immer im Vordergrund auf, aber zieht den Zuschauer doch in ihren Bann und lässt ihn nicht mehr los, bis der Vorhang fällt. Wöllisch steht gerne auf der Bühne. Sie hat Downsyndrom.

Seit drei Jahren ist sie Teil des inklusiven Ensembles an der Freien Bühne München. Das Theater macht es Menschen mit und ohne Behinderung möglich, professionell zusammenzuarbeiten. Angelica Fell, die Mutter eines Sohnes mit Downsyndrom, gründete die Freie Bühne gemeinsam mit ihrer Tochter Marie-Elise als Theater für alle. "Dennis war der ausschlaggebende Punkt", erinnert sich Fell. "Er wollte Schauspieler werden, es gab aber keine Möglichkeit." Heute spielt Dennis Fell Hernandez gemeinsam mit Wöllisch schon seine fünfte Produktion bei der Freien Bühne und verwirklicht, was er sich immer gewünscht hat. "Es macht sehr viel Spaß", sagt Fell Hernandez. "Ich bin glücklich."

Für jede Produktion wird das Ensemble neu gecastet, einzig Wöllisch und Fell Hernandez bleiben als feste Schauspieler. Unter den Bewerbern sind nur wenige mit Behinderung. "Es gibt nicht viele", sagt Jan Meyer, der die künstlerische Leitung der Freien Bühne übernimmt. Gerade für Rollstuhlfahrer sei die Wohnungssuche in München sehr schwierig. Trotzdem haben sie von Oktober an vier neue Auszubildende mit im Team, jeder von ihnen lebt mit Einschränkungen.

Inklusives Theater heißt nicht gleich, dass sich alles nur um Inklusion dreht. "Das ist Unfug", sagt Meyer. "Wir können auch politisches Theater oder komplizierte Klassiker machen." Erst vergangenes Jahr hat die junge Truppe "Hamlet - Eine Maschine" angepackt. Für die aktuelle Produktion wagen sie sich an ein eigenes Stück heran. In mehreren Improvisationssitzungen formten sich die einzelnen Figuren und deren Geschichten. Die junge Autorin Antonia Neumayer fasste sie zusammen und "Milton's Tower - oder die Schönheit der Dinge" entstand. Das Stück handelt von fünf Personen, die auf der Suche nach Freiheit an einem Leuchtturm stranden. "Der Leuchtturm ist der Ort, an dem sich alle Sehnsüchte auflösen", beschreibt Meyer das Stück kryptisch. Die Figuren versuchen den alten Turm in Schuss zu halten - dabei werden sie von ihren Träumen und Ängsten getrieben, die letztendlich auch hervorbrechen. Jeder von ihnen hat eine andere Motivation, zum Leuchtturm zu kommen, jeder eine andere Geschichte zu erzählen. "Wir bilden allgemeine gesellschaftliche Konflikte mit Menschen mit Beeinträchtigung ab", sagt Ernst Stich, der schon bei mehreren Inszenierungen der Freien Bühne mitgespielt hat. "Der Konflikt steht im Vordergrund und nicht, wie zum Beispiel Dennis damit umgeht."

Obwohl sie als Ensemble erst seit knapp drei Monaten spielen, sind sie bereits sehr vertraut miteinander. "Das ist ein ganz anderer Einstieg ins Theater", erzählt die Schauspielerin Regina Gommel. "Hier gibt es keine Egotrips, das ist ein sehr intensives Arbeiten." Die Schauspieler müssen aufeinander achten, nicht immer kann Fell Hernandez seinen Text ohne Stottern vorbringen. Das kann auch auf der Premiere passieren. Aber hier wird jeder so genommen, wie er ist. Das bedeutet nicht, dass alles verziehen wird. Regisseur Jan Meyer behandelt die Schauspieler gleich, auch Wöllisch und Fell Hernandez müssen gut mit Kritik umgehen können - Meyer nimmt sie nicht aus.

Noch ist die Freie Bühne nicht so in der städtischen Theaterszene etabliert, dass sie eine ständige Förderung durch die Stadt München bekäme. Momentan fördert sie das Kreisverwaltungsreferat, der Bezirk Oberbayern und die Sparda-Bank München - sobald das nächste Projekt folgt, ist wieder alles offen. Für Planbarkeit reicht das nicht aus.

Das Theater bietet inklusive Workshops für alle zu Gesang, Tanz und Improvisation an - Dinge, die man auch auf der Schauspielschule lernt. Die Lebenshilfe schickt regelmäßig zwei ihrer Schützlinge. "Es ist ein sehr großer Gewinn, Selbstwert in der normalen Welt draußen zu erleben", sagt Fell über diese Kooperation. Ein sehr schüchterner Teilnehmer wollte nach dem Workshop zwar kein Schauspieler werden, konnte sich aber dazu durchringen, einen Außenarbeitsplatz im Tierpark anzunehmen, weg von der Lebenshilfe. "Das hätten seine Betreuer vor dem Workshop nie geglaubt", erzählt Fell. Die Kostümbildnerin Kalinca Braga Augusto Vicente entwirft die Kostüme für "Milton's Tower" und lässt sie im Kreativ-Labor der Pfennigparade fertigen, der inklusive Gedanke zieht sich durch.

Es gibt noch viel zu tun, um die Freie Bühne auch unter den Schauspielschulen zu etablieren, Luisa Wöllisch ist die erste Abgängerin, eine Pionierin sozusagen. Wenn mehr nachrücken, müssen sie auch an anderen Theatern unterkommen - kein leichtes Unterfangen. Fell wünscht sich auch deshalb eine Kooperation mit der Otto Falckenberg Schule. "Wir sind nach drei Jahren noch am Anfang", sagt Angelica Fell. "Aber wir wollen raus aus der Abgrenzung und sichtbar werden. Wir wollen laut sein." Die Premiere für "Milton's Tower - oder die Schönheit der Dinge" ist am Freitag, 29. September, 20 Uhr, in der Black Box am Gasteig an der Rosenheimer Straße 5. Karten gibt's bei München Ticket.

© SZ vom 29.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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