Neuaubing/Maxvorstadt:Die Geschichten der Versklavten

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Nacht des Erinnerns: Claudia Urbschat-Mingues las im Juni im Gedenkort an der Ehrenbürgstraße. (Foto: Robert Haas)

Die Historie des ehemaligen Zwangsarbeiterlagers in Neuaubing soll nicht nur rational nachvollziehbar werden. Im Oktober entscheidet der Stadtrat über das Konzept dieses besonderen Lern- und Erinnerungsortes

Von Ellen Draxel, Neuaubing/Maxvorstadt

Die Zahlen sind erschreckend. 13 Millionen ausländische Arbeitskräfte verschleppten die Nationalsozialisten während des Zweiten Weltkriegs aus ihrer Heimat, um sie in 30 000 Zwangsarbeiterlagern innerhalb des Deutschen Reiches für einen rassistisch motivierten Eroberungskrieg auszubeuten. Allein in München waren zwischen 150 000 und 200 000 Menschen als zivile Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene oder KZ-Häftlinge in mehr als 550 Lagern oder Sammelunterkünften untergebracht. "Es gab", ermittelte das NS-Dokumentationszentrum, "kaum einen Münchner Betrieb, der nicht auf diese personellen Ressourcen zurückgriff und daher letztlich profitierte".

Eines dieser Zwangsarbeiterlager befand sich in Neuaubing an der heutigen Ehrenbürgstraße 9. Es wurde nach dem Krieg zunächst als Flüchtlings-, dann als Eisenbahn- und Lehrlingswohnheim, später als Handwerker- und Künstlerwerkstatt genutzt. Während der NS-Herrschaft lebten dort bis zu tausend Menschen aus mehreren Nationen, darunter zahlreiche Kinder und Jugendliche, die im Reichsbahnausbesserungswerk Dienst tun mussten. Es ist das einzige noch erhaltene Lager-Ensemble dieser Art im süddeutschen Raum und steht inzwischen samt Zaunresten und zwei Splitterbunkern unter Denkmalschutz. "Als seltene bauliche Zeugen des massenhaften Unrechts der Zwangsarbeit sind die Gebäude von größter historischer Bedeutung", betont Kulturreferent Hans-Georg Küppers. Das ehemalige Lager soll deshalb als Dependance des in der Maxvorstadt ansässigen NS-Dokuzentrums zum Lern- und Erinnerungsort werden.

Mitte Oktober wird das Konzept nun dem Kulturausschuss des Stadtrats vorgestellt, der Bezirksausschuss Aubing-Lochhausen-Langwied hat sich bereits zustimmend geäußert. Das Konzept sieht vor, in erster Linie die "menschliche Dimension" hinter dem System Zwangsarbeit zu verdeutlichen. Im Fokus der Ausstellung stehen die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen, ihre Geschichten, auch die Verfolgungen, die sie nach der Rückkehr in ihre Heimatländer erdulden mussten, weil man sie für Kollaborateure hielt. Eröffnung soll 2023 sein.

Dazu sollen im Außenbereich des Geländes zunächst zwölf Infotafeln positioniert werden, die grundlegende Kenntnisse zum historischen Ort vermitteln. Etwa zur Funktion der verschiedenen Bauwerke im Lager, aber auch zur Nachgeschichte des Areals. Daneben finden sich zwölf Installationen mit Biografien von Menschen, die ihr Dasein in diesem Lager fristen mussten. Die Besucher werden motiviert, das Gelände eigenständig zu erkunden, sodass der Innenhof, der früher als Appellplatz diente, künftig zum offenen Kommunikationsraum wird. Die Interaktion mit den in den Baracken nach wie vor arbeitenden Künstlern und Handwerkern ist dabei bewusst gewollt, ermöglicht sie doch eine Auseinandersetzung mit aktuellen Fragen der Erinnerungs- und Gedenkkultur. Dass die derzeitigen Nutzer des Geländes mit der Historie des Ortes umzugehen wissen, haben sie mehrfach bewiesen: bei der "Nacht des Erinnerns" etwa, bei Erzählkunst-Abenden und Kunstausstellungen.

Die Erkundung des Außengeländes ist allerdings nur ein Aspekt, wie versucht werden soll, das Lagerleben sichtbar zu machen. Tiefer in die Zeit eintauchen können die Besucher künftig auch im Rahmen einer Dauerausstellung auf dem Areal. Die Baracke 5 wurde dafür eigens baulich hergerichtet, nachträgliche Veränderungen wie Zwischenwände, Tapeten oder Toiletten entfernt. Die Baracke verfügt über mehrere Räume, in jedem wird ein anderer Teilkomplex der Geschichte der Zwangsarbeit behandelt. Auch die Schicksale der zwölf Hauptfiguren sollen dort wieder thematisiert werden. Das Team des NS-Dokumentationszentrums hat in den vergangenen Monaten mehrere Zeitzeugen interviewt, deren Erfahrungen geben Audio- und Videoeinspielungen wider. Um nicht nur den rationalen, sondern auch den emotionalen Zugang zu ermöglichen, sind weniger klassische Erklärungstafeln als vielmehr Soundinstallationen, Filmsequenzen und interaktive Angebote geplant. Dank dieser Vermittlungsformen will man auch Gruppen anziehen, die bislang nicht zu den vorwiegenden Besuchern von Gedenkstätten zählen, Förder-, Mittel- und Berufsschulklassen etwa oder Menschen mit Migrationshintergrund.

Weil die Lagergeschichte aber auch eine ist, die Menschen vielerlei Nationen betrifft, ist zudem die Entwicklung einer App in mehreren Sprachen als Mediaguide vorgesehen. In Englisch, Französisch und Italienisch, aber auch in Polnisch, Ukrainisch, Russisch und Niederländisch. Der Download soll über freies W-Lan auf dem Gelände möglich sein. Bereits heute sind Kooperationen mit Schulen und anderen Bildungsträgern in der näheren Umgebung üblich, diese will man dauerhaft etablieren. Das NS-Dokumentationszentrum kann sich aber darüber hinaus aber auch einen Austausch mit Münchner Firmen vorstellen. "Das Thema des Erinnerungsortes bietet in diesem Zusammenhang auch viele Anknüpfungspunkte an aktuelle Fragen zu heutigen Formen der wirtschaftlichen Ausbeutung oder modernen Sklaverei." Für solche Veranstaltungen soll eine zweite Baracke umgebaut werden.

© SZ vom 24.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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