Kultur in der Krise:Tödliche Stille

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Wie andere Münchner Kulturinstitutionen macht das Gärtnerplatztheater derzeit mit roter Beleuchtung auf die Notlage aufmerksam. (Foto: Christian Pogo Zack)

Die Philharmoniker protestieren unter dem Hashtag #sangundklanglos gegen das Veranstaltungsverbot. Die Resonanz ist groß: Künstler quer durch die Sparten schließen sich an

Von Egbert Tholl und Michael Zirnstein

Es könnte sich gleich etwas Großartiges ereignen. Die Musikerinnen und Musiker der Münchner Philharmoniker betreten das Podium in der Münchner Philharmonie, wie sie es unter normalen Umständen oft tun. Sie tragen Frack und Abendgarderobe, sie nehmen dort Platz, wo sie hingehören, rund 60 Menschen, die darauf warten, ihren Beruf auszuüben, mit dem sie so vielen Freude machen. Dann passiert nichts. Sie sitzen. Die Kamera fährt näher an manches Gesicht heran, alle sind ernst, nachdenklich, manches ist traurig. Es herrscht absolute Stille.

Dann steht eine Musikerin auf, erstes Pult der zweiten Geigen, legt ihr Instrument auf den Stuhl, setzt die Maske auf, geht. Dann folgt ein Kollege. Dann die nächste Kollegin. Manche lassen ihr Instrument liegen, manche nehmen es mit. Man denkt an die sogenannte "Abschiedssymphonie" von Joseph Haydn, bei deren Aufführung im Schloss des Fürsten Esterházy sich Ähnliches ereignet hat: Im finalen Adagio verschwanden nach und nach die Musiker. Spielten nicht mehr. Nur ging es damals darum, dass die Musiker endlich wieder ihre Familien sehen wollten und die lange Sommersaison auf dem Schloss satt hatten. Der Fürst willigte ein.

Ob nun ein Fürst einwilligt? Es geht bei diesem Auftritt der Münchner Philharmoniker, schließlich um das exakte Gegenteil. Nicht darum, länger als geplant spielen zu müssen. Sondern darum, überhaupt vor Publikum spielen zu können. Also zeigt das Orchester, was passiert, wenn es nicht spielen darf. Es passiert ein tödliches Nichts.

Die Kamera fährt an eine einsame Geige heran, die verloren auf dem Stuhl liegt. Sie ist nutzlos geworden, weil eine kulturferne Politik verbietet, dass sie jemand vor Publikum, und sei dieses noch so klein und noch so in Sicherheit vor einer möglichen Ansteckung mit dem Virus, in die Hand nimmt. Die Streicher nehmen die Spannung aus ihren Bögen, mit all der angemessenen Sorgfalt, legen sie aufs Notenpult, mit gemessenen Ernst. Nicht resignativ wirkt das, sondern grauenvoll endgültig.

Die beiden letzten sind Konstantin Sellheim und Matthias Ambrosius, Bratscher der eine, Klarinettist der andere, beide Mitglieder des Orchestervorstands. Sie lassen sich Zeit, doch dann gehen auch sie ohne Pathos, ohne Kommentar ab. Langsam wird nun das Licht in der Philharmonie dunkel. Bis es ganz finster ist. Das ist beklemmend. Da stirbt etwas.

Ambrosius und Sellheim hatten die Idee zu zeigen, was passiert, wenn nichts passieren darf. Ziel war gar nicht allein die Stille zu zeigen, wenn die Münchner Philharmoniker nicht spielen. Ziel war zu zeigen, wie unendlich still es ist, wenn nichts mehr sein darf. Gemeint sind damit Künstler aller Genres, gemeint sich alle, die zum Betrieb gehören, auch die Caterer, die Menschen an der Garderobe, das Einlasspersonal, alle werden überflüssig. Sellheim: "Es geht auch darum zu überlegen, in welcher Art von Gesellschaft wir leben wollen. Bislang konnte jeder auswählen, woran er in dieser Gesellschaft teilhaben will." Natürlich, viele der potenziellen Besucher haben auch Angst. Ängste mögen irrational oder berechtigt sein, auf jeden Fall sind sie vorhanden, also Tatsache. Als die Musiker das Video aufnahmen, hätten sie das beklemmende Gefühl gehabt, jetzt ist es aus. Jetzt ist das Publikum weg. Und kommt nicht wieder. Dagegen muss man ankämpfen, und so riefen Ambrosius und Sellheim ihre Kollegen aus den Vorständen anderer Orchester an, diese taten es ihnen gleich und es entstand eine Flut der Stille.

Es wird einsam: Klarinettist Matthias Ambrosius verlässt als einer der letzten die Bühne. (Foto: Uli Neumann-Cosel)

Die Aktion der Philharmoniker unter dem Label #sangundklanglos dockt an die größere Plattform #alarmstuferot.org an und erreichte gestern Abend große Aufmerksamkeit. Zehntausende Kulturfreunde haben die Proteste auf Facebook und Instagram kommentiert. Musiker aus dem ganzen Land haben sich angeschlossen und ebenfalls auf stumm geschaltet - so auch viele Künstler aus Bayern: vom derzeit nächtlich rot beleuchteten Staatstheater am Gärtnerplatz, das dem Betrachter außer dem Einspielen im Graben nichts gönnt, bis zur Augsburger Puppenkiste, die den Betrachter zwischen staubsicher an den Nagel gehängten Marionetten herumgeistern lässt: Klappe zu, Kultur tot.

Quer durch die Genres teilte man einmütig die Stille - vom Bohème-Bündnis Jourfixe e.V. bis zum Techno-Klub Harry Klein. Der sonst Bandwurmsätze redende Kabarettist Willy Astor schickte einen stummen Gruß an die Philharmoniker - stilecht mit einer Mozartlockenperücke aus Klorollen; die New-Metal-Band Megaherz gab per Split-Screen Einblick in den verwaisten Probenraum; der Liedermacher Matthias Kellner blickte aus treuen, großen Augen 21.24 Minuten lang schweigend über den Gitarrenrand; der Konzertveranstalter Frank Bergmeyer streamte ein nicht stattfindendes Konzert aus seinem Strom-Klub; der Verband für Pop-Kultur in Bayern zog den roten Vorhang zu; der Münchner Kneipenchor teilte schlicht ein Gruppenfoto - irgendwie verstörend, so ohne Masken und Abstand. Und ist das auch ein Standbild vom Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks im Herkulessaal? Doch nicht, eine Geigerin hat geblinzelt ...

Freilich gibt es auch die, die nicht stillhalten können, die ihre Pause inszenieren: Mulo Francel und Max Geller etwa in der Performance "Zwei Saxofonisten, nicht bei der Arbeit": miesepetrig dreinschauend auf zwei Sofas lümmelnd, Maske auf, Maske ab, die Plattenspielernadel dreht in der letzten Rille durch, und - der wird doch nicht! - Francel setzt das Rohr an ... uff, Glück gehabt, kein Mundstück dran.

Der Autor Moses Wolf will wohl auch einmal nicht richtig Spaß machen, und postet ein relativ unwitziges Gedicht: "Die Bühne ist leer / das Mikro ist aus / der Herbst macht schwer / wir bleiben zu Haus / Schaun aus dem Fenster / ertragen die Schmerzen / doch innen ganz tief / brennen unsere Herzen / Da tobt die Kunst / da lacht das Glück / trotz Nebel und Dunst: wir kehren zurück!" Andere müssen dann einfach doch reden, bevor sie verstummen. Ehe sie also zehn Minuten lang still ein Schild mit dem Hashtag "sangundklanglos" hochhält, berichtet die Singer-Songwriterin Sarah Straub, wie wichtig ihre "Spezies" sei. Und "ohne Zetern, ohne Schimpfen" richtet sie den klugen Appell an die Mainstream-Radios, statt der "größten Hits der Achtziger" auch einmal Musikern ohne große Plattenverträge gerade jetzt ein Forum zu bieten. Denn "ein Bruce Springsteen, eine Helene Fischer, eine Lady Gaga, die überleben diese Zeit jetzt auch, ohne dass sie hundertmal am Tag gespielt werden".

Der Wirtshausmusiker Otto Göttler vertraut darauf nicht, er schafft sich lieber eine eigene "neue, mobile Bühne": In Tour-de-France-Montur strampelt er sich freihändig auf einem Rennrad ab und spielt dabei auf einem Miniakkordeon - sang- und klanglos, das kann er halt nicht.

Dagegen macht die Violinistin Anne-Sophie Mutter klar, dass die Internetaktion keine Kunst selbst sein soll, "sondern nur ein Hinweis darauf, wie es heute und morgen und überhaupt in den nächsten 29 Tagen in Deutschlands Konzertsälen klingt. Nämlich gar nicht." Deswegen betont sie, dass ihr Streicher-Streik zusammen mit zwei jungen Kolleginnen und Kollegen eben "keine Aufführung eines Werks von John Cage, beispielsweise" war. Damit alle bald wieder von "musikalischen Umarmungen" durch den grauen Alltag getragen werden, zähle sie "auf die Politik, die in der ersten Corona-Welle zu wenig und zu spät geholfen hat". Aber am Ende werden sie doch schwach. "Ganz kurz" spielen sie aus Beethovens Harfenquartett - wenn auch ohne Cello, so doch herzerwärmend. Ist einfach nicht auszuhalten, diese Stille.

© SZ vom 04.11.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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