Münchner Momente:Was für ein Leben

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Schaut man auf unsere liebe Stadt, so findet sich manches in ihrer präcoronaren Zeit, das man gerne in der Vergangenheit beließe. Vielleicht ist es gerade jetzt an der Zeit, den anstehenden Neuanfang als eine Art außerordentliches Silvester zu begreifen

Kolumne von Karl Forster

Jauchzet, frohlocket, preiset die Tage! Nein, es ist nicht Weihnachten, es ist nur vorbei. So zumindest heißt es allerorten. Sogar das sonst eher zurückhaltende Wochenblatt Die Zeit ließ sich zu der rhetorischen Fragenüberschrift hinreißen: "Zurück ins echte Leben?" Zwar könnte man einwenden, dass die letzten eineinhalb Jahre leider auch sehr echt gewesen seien, aber wir verstehen schon: Das Echte, das Schöne und Gute, das war vorher. Und dieses Vorher, also dieses längst Vergangene, soll nun wieder Gegenwart werden. Ein Wunsch, der aber möglicherweise nicht ganz durchdacht ist.

Denn war dieses "echte Leben", welches Die Zeit und viele andere wiederhaben wollen, wirklich so toll? So wunderbar? So erstrebenswert? Schaut man nur auf unsere liebe Stadt, so findet sich manches in ihrer präcoronaren Zeit, das man gerne in der Vergangenheit beließe.

Man denkt da zum Beispiel an die Montags-Demos der Pegida-Dumpfbacken am Odeonsplatz, die dann leider später bundesweit eine monströse Dumpfbackenerweiterung erfahren sollten. Man denkt da, als pars pro toto für die Ungerechtigkeit des Lebens, an die 5:1 Klatsche, die der TSV 1860 am 24. August 2019 in Magdeburg erleiden musste. Man fasse aber vor allem sich selbst an die Nase und denke daran zurück, wie man sich davor drückte, in der U 6 den "Scheiß Kanaken!" krakeelenden Glatzkopf in die Schranken zu weisen.

Wäre es vielleicht nicht an der Zeit, den jetzt anstehenden Neuanfang des "echten Lebens" als eine Art außerordentliches Silvester zu begreifen mit entsprechend außerordentlichen guten Vorsätzen? Ich fahre nicht auf der falschen Seite auf dem Fahrradweg. Ich parke die Garagenausfahrt nicht zu. Ich gebe der Kellnerin Trinkgeld, weil sie nichts dafür kann, dass das Schnitzel so zäh war. Kurz: Ich werde ein besserer Mensch.

Aber wie das halt so ist mit Silvester, den guten Vorsätzen und schon gleich mit den besseren Menschen: Am 2. Januar ist das neue Jahr schon wieder alt und der Trott des Lebens ebenso. Doch einen Versuch wäre es schon wert. Muss man wirklich alles und jedes auch weiterhin im Netz kaufen, was sich dann beim Nachbarn stapelt, weil man natürlich nicht zuhause ist, wenn's geliefert wird? Muss man den Stapel alter Zeitungen in die Biotonne werfen, nur weil die fürs Papier schon voll ist? Muss man das Plastiksackerl mit dem Hundeverdauungsrest einfach am Wegesrand ablegen in der Hoffnung, irgendein gutmütiger Trottel wird das schon in Ordnung bringen? Nein, müsste man nicht. Es wäre, denkt man, also ganz einfach, so ein neues "echtes Leben". Schaumamal.

© SZ vom 04.06.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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