Münchner Momente:Verwertet bis zum letzten Grashalm

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Im Garten gegenüber konnte man früher den Einzug des Frühlings beobachten - nun steht dort ein fetter Gebäuderiegel. Denn nur die Rendite zählt

Glosse von Wolfgang Görl

Bis vor wenigen Jahren genügte ein Blick aus dem Küchenfenster, um herauszufinden, wie weit der Frühling mit seinem Auftrag, die Welt zu begrünen, gekommen war. Schräg gegenüber gab es einen großen Garten, dessen jahreszeitliche Metamorphosen dem städtischen Stubenhocker das Gefühl vermittelten, an den Wundern der Natur teilzuhaben, ohne an die frische Luft zu müssen. Was war das für eine Freude, wenn sich das schmutziggraue winterstarre Terrain im April innerhalb weniger Tage in eine Wiese verwandelte, weitläufig genug, um einer mittleren Ziegenherde Lebensraum zu bieten. Doch hier lebten keine Ziegen, sondern ein bis zwei menschliche Familien, die den Garten zum Faulenzen und feiertags zum Nichtstun nutzten. Es gab auch ein Haus, das, obwohl groß und von mäßiger Schönheit, nicht weiter unangenehm auffiel.

Eines Tages stand eine Bautafel vor dem Lattenzaun, irgendwas mit repräsentativen Eigentumswohnungen in Schlossparknähe war darauf zu lesen. Wenig später rückten die Bagger an. Als sie fertig waren, ragten zerborstene Dachbalken wie die Planken eines gestrandeten Schiffs aus dem Trümmerhaufen, und wo einmal der Garten war, gähnte der Schlund einer riesigen Baugrube. Im Nu war ein fetter Gebäuderiegel hochgezogen, der wie die fetten Gebäuderiegel in aller Welt aussieht und dessen hervorstechendes Merkmal ist, das Grundstück fast bis zum Zaun zu füllen, der jetzt aus kaltem Metall ist. Ach ja, vor jeder Terrasse prunkt noch ein Grünstreifen im Format eines Badehandtuchs - ein bisschen Natur muss schon sein.

Es war nicht das einzige Anwesen, das hier in Nymphenburg, zwischen Schlosskanal und Romanstraße, in den vergangenen Jahren derart gründlich abgeräumt wurde, dass selbst Polizeispürhunde nicht eine Spur des vormaligen Lebens entdeckt hätten. Was da verschwand, waren nicht die grandiosen Villen, die unter Denkmalschutz stehen, sondern die eher unscheinbaren Gebäude, welche das Viertel genauso prägen und die Schmuckstücke erst recht erstrahlen lassen. An ihrer Stelle entstanden die derzeit üblichen Schachtelhäuser, die unter der unerbittlichen Diktatur des rechten Winkels stehen. Immerhin, die riesigen Fenster gewähren eine prima Aussicht auf den nun leider arg geschrumpften Garten. Zwar sind einige dieser Neubauten durchaus ansehnlich und gewiss komfortabler als die alten, vom Leben gezeichneten Häuser, die sie verdrängt haben; sie bringen aber auch eine kühle Sachlichkeit ins Viertel, gerade dort, wo es unaufgeräumt und verspielt war.

Was hier geschieht, steht im Zeichen der Verwertung bis zum letzten Grashalm. Weg mit dem alten Plunder, weg mit den viel zu bescheidenen Altbauten und den viel zu großen, wildromantischen Gärten. Allein die größtmögliche Rendite zählt, die Risiken und Nebenwirkungen sind egal. Und so schwindet peu à peu der besondere Charakter dieses Viertels, die charmante Mixtur aus aristokratischem Glanz und dörflicher Idylle - unwiederbringlich wie der wunderbare Garten vor unserem Küchenfenster.

© SZ vom 21.04.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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