Münchner Momente:Sag, wo sind die Mäuse hin?

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Lange Zeit vertrieben die Nager den wartenden S-Bahn-Fahrgästen die Zeit. Die Verantwortlichen wollen mit ihrem Verschwinden nichts zu tun haben

Von Wolfgang Görl

Es gab Zeiten, da lachte das Herz vor Freude, wenn der Lautsprecher am S-Bahnhof Marienplatz größere Verspätungen oder die Sperrung der Stammstrecke verkündete. Gerade wenn gar nichts mehr ging, wenn kein Zug mehr einfuhr, war die Gelegenheit günstig, wegweisende Studien auf dem Feld der Verhaltensforschung zu erstellen. Im Marienplatz-Untergrund, ebenso am Hauptbahnhof und am Stachus, hauste nämlich eine weitverzweigte Mäusefamilie, die mit ihren lustigen Darbietungen die Wartenden aufs Beste unterhielt. Wissenschaftlich besonders interessant waren die Sprintwettbewerbe, die vermutlich jugendliche Mäuse auf der unteren Stahlbahn der Schienen austrugen. Hier zeigte sich, dass der Fairplay-Gedanke unter Mäusen noch nicht so verbreitet ist, wie es wünschenswert wäre. Immer wieder kam es zu Rempeleien, wobei ein Konkurrent auch schon mal ins Gleisbett abgedrängt wurde, wo er aussichtslos zurückfiel. Es war Ehrensache, die Athleten mit ein paar Krümeln vom Pausenbrot zu belohnen, und auch dabei ergaben sich Erkenntnisse, die für die Mäuseforschung von unschätzbarem Wert sind. Offenbar gibt es unter den Mäusen gutgläubige Typen, welche die Brösel flugs verspeisen, wohingegen andere, im Wissenschaftsjargon "Skepsisnager" genannt, das Geschenk erst misstrauisch beschnüffeln und es dann verschmähen. Kurz und gut: Die Bahnhofsmäuse machten das Warten zu einem lehrreichen Erlebnis.

Seit Monaten nun liegt die Mäuseforschung in der S-Bahn-Röhre brach. Kein Tier lässt sich blicken, selbst ein extra beim Dallmayr erworbenes Stück Serrano-Schinken blieb unangetastet liegen. Was ist geschehen? Hat die Bahn, der man ja alle möglichen Lumpereien zutraut, etwa einen Mäusejäger in Dienst gestellt? Nein, versichert ein Bahnsprecher, sein Unternehmen habe den Untergrund-Mäusen kein Haar gekrümmt. Also gibt es nur eine Erklärung: In der Münchner S-Bahn-Röhre muss eine bislang unbekannte Katzenart hausen, die ausschließlich unter der Erde lebt und einige Maulwurfgene in sich trägt. Diese Biester fressen nicht nur Mäuse, sie kappen mit ihren scharfen Krallen gelegentlich auch die Oberleitung - deshalb die vielen Verspätungen.

© SZ vom 24.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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