Münchner Momente:Mit der Kanüle ins Gebirge

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Impfneid ist eine ganz üble Sache, das geht gar nicht. Ein anständiger Mensch freut sich, wenn der Nachbar bereits geimpft ist. Andererseits...

Glosse von Wolfgang Görl

Blöd, oder? Da wartet man seit Monaten auf einen Impftermin wie aufs Christkind, aber nichts passiert. Wahrscheinlich kommt das Christkind eher als der Doktor mit der Nadel, bestenfalls hängt eine Spritze Astra Zeneca am Weihnachtsbaum. Dass andererseits immer mehr Münchner triumphal herausposaunen, schon ein- oder zweimal geimpft zu sein, ist für Ungeimpfte ein bittere Pille. Umso mehr gilt: Jetzt bloß nicht impfneidisch werden! Impfneid ist eine ganz üble Sache, das geht gar nicht. Ein anständiger Mensch freut sich, wenn der Nachbar, in diesem Fall der Herr Neumeier, bereits geimpft ist. Neumeier hat das unmittelbar vor seiner Abreise zu einer zehnwöchigen Mittelmeer-Kreuzfahrt verraten, in dem Moment, als er uns seine Wohnungsschlüssel aushändigte, damit wir seine Blumen gießen. "Als Ungeimpfter haben Sie ja sonst nichts zu tun", hat er noch gesagt.

Ja, es ist schön, dass der Mann seine Freiheit zurückhat. Wir begrüßen das, ehrlich. Aber seltsam ist es schon, dass gerade der Neumeier einen Impftermin bekommen hat. Der ist doch gar nicht so alt, und Gebrechen hat er auch keine, sieht man davon ab, dass er nicht die hellste Kerze auf der Torte ist. Aber das ist typisch Neumeier: Überall drängt er sich vor. Als Corona-Masken verteilt wurden, war er der Erste, der eine hatte, und im Theater war er jetzt auch schon, obwohl er keine Ahnung hat vom Theater. Wahrscheinlich hat er einen Spezl in der Regierung, der ihm den Impfstoff über die üblichen dunklen Kanäle der CSU zukommen ließ. Und jetzt aalt sich dieser Lodenjanker-Mafioso auf dem Wellnessdeck in der Sonne Homers, und wir dürfen seine kümmerlichen Blumen gießen.

Soll er doch in der Sonne brutzeln mitsamt seinem Impfpass. Wir gönnen ihm das Vergnügen. Und wie die junge Frau Ivanic, die im Krankenhaus arbeitet, zu einem Impftermin gekommen ist, wollen wir auch nicht wissen. Neulich hat sie auf offener Straße ohne Mund-Nasen-Schutz an einer Eistüte geleckt. Wir hingegen sind gezwungen, mit der Maske aufzustehen und mit ihr ins Bett zu gehen, damit nicht im letzten Moment, wenige Monate vor der Impfung, noch was schiefgeht. So ungerecht ist die Welt, aber bitte: Neidisch sind wir nicht. Nur fragen darf man schon, warum die Ivanic bereits genauso vollständig geimpft ist wie der Rüpel Neumeier, ja warum praktisch alle Freunde, wenn nicht gar alle Münchner mindestens eine Dosis Biontech oder Astra Zeneca intus haben, während unsereins, einer der systemrelevantesten Bürger der Stadt, mit der Kanüle ins Gebirge schaut. Diese Impfterminvergeber haben Glück, dass wir so geduldig sind; andere würden schreien vor Ärger. Aber so sind wir nicht. Wir freuen uns für jeden Impfling und halten uns im Übrigen an das, was der Oberbürgermeister immer an die Litfaßsäulen schreibt: München hält zamm.

© SZ vom 15.06.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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