Münchner Momente:Mit den Augen der anderen

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Im Urlaub mögen die Münchner zu kulinarischen Experimenten aufgeschlossen sein - daheim geht es meist wieder in die Stammlokale. Dabei lässt sich auch hier viel Neues entdecken

Kolumne von Laura Kaufmann

Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, das wusste schon Gustav Freytag. Seit der Schaffenszeit des Schriftstellers hat sich daran wenig geändert, und der Münchner ist sicher das gewohnheitsverliebteste Gewohnheitstier. Er mag auf Reisen experimentierfreudig sein und täglich neue Lokale ausprobieren. Kaum ist er daheim, wird sich vornehmlich in bekannten Gefilden bewegt. Für Ausgehfreudige heißen diese Gefilde Stammlokal, Stammcafé oder Stammbar, und falls es doch mal etwas anderes sein soll, grübelt der Münchner so ratlos vor sich hin wie ein Mensch vor seinem Kleiderschrank nach plötzlichem Wetterumschwung.

Dabei lässt sich daheim viel Neues entdecken. Selbst wenn es mitnichten neu ist. Im Herbst, der Neuanfang und Vergänglichkeit bezaubernd in sich vereint, ist die beste Zeit dafür. Jeder Tag mit Temperaturen über 22 Grad weckt doch noch einmal die Sehnsucht nach Biergarten und treibt einen nach draußen, mit dem festen Vorsatz zu genießen, jeder Sonnenschein könnte der letzte sein. Und wenn es später doch kalt wird, lässt man sich treiben. Vielleicht durch die Gassen der Altstadt, um das Platzl herum, sieht die Stadt plötzlich mit den Augen eines Touristen und sieht schließlich ein schmales Café, wie es auch in Paris stehen könnte. Petit Café heißt es passenderweise, innen steht ein herzlicher Gastgeber aus Apulien hinter dem Tresen, Helles und Pils hat er auf der Getränkekarte unter Softdrinks einsortiert, und der winzige Laden mit samtpolsternen Sesseln ist über und über mit alten Postern und Schildern dekoriert. Rainer Werner Fassbinder, Barbara Valentin und Freddy Mercury sollen hier häufiger einen über den Durst getrunken haben. Seit 1962 existiert das Petit Café, ein echtes Kleinod abseits der üblichen Stammkneipenroute und eine heimatkundliche Bildungslücke, nie hier gewesen zu sein. Bis jetzt, nur ein Zufall, eine Laune, einmal anders abgebogen.

"Wenn Gott gewollt hätte, dass wir Wasser trinken, hätte er nicht 85 Prozent davon versalzen", wird Graf von Neipperg, ein adeliger Winzer, auf der Getränkekarte zitiert. Nach zwei, drei Drinks leuchtet das völlig ein. Genau wie der Vorsatz, auch abseits des Urlaubs am versalzenen Wasser öfter die Augen für das Unbekannte offen zu halten.

© SZ vom 13.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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