Münchner Momente:Kurze Hose, Mütze, Handschuhe

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Man weiß in München derzeit gar nicht, wie man sich kleiden soll. Über die Gleichzeitigkeit der Jahreszeiten

Glosse von Anna Hoben

Es zeigt sich in München in diesen Tagen ein Phänomen, das dem Osterhasen- und Nikolausphänomen in den Supermärkten ähnelt - die Gleichzeitigkeit der Jahreszeiten. In den Supermärkten ist im August bekanntlich gleichzeitig noch Sommer und schon Weihnachten. Oder Mitte Februar: gleichzeitig noch Winter und schon Ostern.

Während des Vorfrühlings der vergangenen Woche schrieb ein witziger Mensch im Internet, zwischen minus 18 und plus 20 Grad habe er irgendwie das zehnminütige Zeitfenster für das Tragen einer Übergangsjacke verpasst. Nun, erstaunlicherweise ging der Vorfrühling nicht direkt in Freibadwetter über - am Wochenende wurde es wieder kühler. Weil aber nicht jeder Verstand diese Realität ohne Weiteres akzeptieren wollte, bot sich draußen ein interessantes Bild. Es begann Freitagabend, als man Mädchen in Sommerkleidern und Sandalen durchs Viertel laufen sah - so als spazierten sie geradewegs von den ausgefallenen Faschings- in die Sommerferien hinein.

Am nächsten Tag erblickte man Sommerjacken und Wintermäntel, Menschen in dünnen Blousons, Trenchcoats oder Kapuzenpullis, während andere Mützen und Handschuhe trugen. Männer in kurzen Hosen und Frauen mit frierenden Knöcheln. Den Mindergewandeten kamen wohl - anders als in früheren Jahren - Pandemiefrisuren und Masken wärmend zugute. Während dann allerdings die einen an den Labstätten des Lockdowns, den Kiosken, für Glühwein, Kakao oder Heißen Apfel mit Zimt anstanden, um sich die Hände zu wärmen, holten die anderen sich ein eiskaltes Radler oder Helles, so etwa am Kiosk neben der Thalkirchner Brücke. Und auch die Betreiber der Eisdiele daneben konnten sich über mangelnde Kundschaft nicht beklagen. Frühling, das zeigte sich hier mal wieder, ist eine Sache der Interpretation. Frühling ist, was in deinem Kopf passiert. Frühling ist, was du draus machst. Und viele Münchner sind offenbar fest dazu entschlossen, dass jetzt Frühling ist.

Das ist grundsätzlich überhaupt nicht verkehrt. Es zeigt, wie viel Optimismus auch nach einem zweiten, monatelangen Lockdown geblieben ist. Man sieht dies auch an der neuen Lieblingstätigkeit des Stadtmenschen: dem Spazierengehen. Der Mensch spaziert und spaziert und spaziert. Wer spaziert, der kann nicht nur negative Gedanken haben. Wahrscheinlich gibt es, das nur nebenbei, viele Münchner, die noch nie in ihrem Leben so viel draußen waren wie während des Lockdowns. Wenn der irgendwann beendet ist - wann immer das sein wird -, dann kann man vielleicht auch mal wieder in der Wohnung bleiben. Und die Gleichzeitigkeit der Jahreszeiten entspannt von drinnen beobachten.

© SZ vom 01.03.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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