Münchner Momente:Heiter bis herbstlich

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Langsam geht der Sommer und die Melancholie schleicht sich an. Und in diesem Jahr muss der Münchner gar mit einer ganz neuen Variante kämpfen

Kolumne von Laura Kaufmann

Er lässt sich nicht mehr leugnen, der Herbst. Schon bevor ein Sturm den ersten Blätterteppich über die Gehwege legte und der Regen Ruhe in die Straßen brachte, hat er das Licht goldener werden lassen und die Farben intensiver. Melancholische Menschen sinnieren im Herbst über die Vergänglichkeit und das, was unwiederbringlich verloren ist; dieses Jahr muss der Münchner gar mit einer neuen Variante der Melancholie kämpfen, mit einem "was eigentlich hätte sein sollen, aber nicht stattfindet". Denn der Münchner kennt, neben Begriffen wie heiter bis wolkig oder durchwachsen, noch einen anderen, regionalen Wetterbegriff. Den des Wiesnwetters nämlich. Wiesnwetter ist, ganz grob gesagt, ein schöner Tag, der aber schon nicht mehr sommerlich ist. Spätsommerlich bestenfalls oder eben schon goldener Herbst. Einen solchen lobt der Münchner als "bestes Wiesnwetter". Auch herbstlich grauer Himmel mit leichtem Niesel können unter Wiesnwetter fallen, unter die Sonderkategorie "kein Wiesnwetter" nämlich, ein Wetter zur Wiesnzeit, das aber nicht dazu verlockt, auf die Festwiese hinaus zu spazieren.

Nun, da der Münchner schon jetzt viel mit den verschiedenen Ausprägungen des Wiesnwetters konfrontiert ist, schleicht sich Sehnsucht ein. Ohne Festwiese muss der Übergang von See-Zeit zu Streaming-Zeit gänzlich ohne kollektives Schöntrinken vollzogen werden. Ohne Hendl- und Steckerlfischgeruch, ohne gemeinsames beisammen sitzen und gemütlich am Maßkrug nippen. Hach, draußen trinken! Vielleicht lässt sich zumindest Inspiration ziehen aus dem, was fehlt dieses Jahr. Draußen trinken nach 23 Uhr ist nicht mehr gerne gesehen? Um die Uhrzeit macht das Oktoberfest längst dicht. Ab Herbst ist also traditionell antizyklischeres Trinken angesagt in der Stadt, um zum Bier noch etwas Sonne im Gesicht zu haben. Sonntags in die Berge zu fahren ist momentan nur mehr etwas für Stauliebhaber; warum also nicht zum Sixpack greifen und sich gnadenlos dem Daydrinking widmen?

Sollte sich dieser Trend etablieren, könnte selbst der melancholische Münchner dabei gewinnen. Nachmittags schon Erbrochenes vor seiner Haustüre zu finden könnte ihn daran erinnern, dass die vermisste Wiesn nicht nur Steckerlfischgeruch bedeutet und der neuen Melancholie-Variante Einhalt gebieten.

© SZ vom 01.09.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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