Münchner Momente:Eine Maske im Wind

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Corona hinterlässt so manche Fundstücke, über die man ziemlich ins Nachdenken geraten kann

Kolumne von Jakob Wetzel

Irgendetwas ist anders an diesem Vormittag. Das Bild wirkt eigentlich vertraut: Da vorne, am Rande des Spielplatzes, baumelt von einem Ast ein Stück Stoff. Man kennt das ja von Schals, von Kindermützen oder auch von einzelnen Handschuhen. Die liegen gerne verloren auf dem Spielplatz herum, und was liegt näher als sie aufzuheben und über einen Ast zu stülpen? Dort werden sie zwar auch nicht schneller gefunden, weil die früheren Besitzer sie ja auf dem Boden suchen, nicht auf einem Ast, aber zumindest liegen sie dann nicht mehr im Dreck. Das macht man einfach so.

Beim Näherkommen aber wird klar: Was da am Ast baumelt, was da sachte im Wind schaukelt, ist diesmal ein ganz anderes Kleidungsstück. Es ist eine Atemschutzmaske, offensichtlich schon etwas ausgeleiert, mit Spuren von Lippenstift. Sie hängt dort am Ast und wartet darauf, wiedergefunden zu werden. Falls es noch eines Beweises bedurft hätte, dass diese Masken inzwischen zu völlig normalen Bekleidungsstücken geworden sind: Der ist spätestens jetzt erbracht.

Man würde nun gerne noch etwas verweilen und zusehen. Man stellt sich vor, wie die Eigentümerin oder der Eigentümer tatsächlich zurückkommt, auf der Suche nach der verlorenen Maske, wie er sie sieht und freudig ausruft: "Da ist sie ja!" Man stellt sich vor, wie ein Passant vorübergeht und die Maske pflückt, sie dreht und wendet, sie einem prüfenden Blick unterzieht, vielleicht an ihr schnuppert, bevor er etwas sagt wie: "De is ja no pfenningguad", die Maske in die Jackentasche steckt und beschwingt weitergeht, so eine feine Maske findet man ja nicht alle Tage, einfach so am Baum. Dann fällt der Blick auf die Tierarzt-Praxis nebenan, und man stellt sich vor, wie jemand einen verletzten Igel findet, irgendwo im Gras. Er möchte ihm helfen, will das Tier retten, hebt es vorsichtig auf, eilt mit ihm zur Praxis, doch dann fällt ihm ein: Ausgerechnet heute hat er keine Maske eingepackt. Er will das zuerst nicht wahrhaben, tastet sich ab, greift verzweifelt in alle möglichen Winkel seines Mantels und seiner Hosentaschen, aber das hilft natürlich auch nichts, doch Moment: Was hängt denn dort am Baum? Er nimmt die Maske, eine Träne der Freude kullert die Wange hinab, das Glück ist vollkommen, der Igel gerettet.

Man würde wirklich gerne noch etwas verweilen an diesem Ast und auf kleine Wunder warten, darauf, dass das Leben eine dieser Geschichten schreibt, von denen es immer heißt, dass sie nur das Leben schreibt. Aber das zieht sich. Auch nach mehreren Minuten ist weit und breit einfach kein Passant in Sicht. Also nimmt man die Maske und schmeißt sie drei Schritte weiter in den Müll.

© SZ vom 26.03.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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