Konzert:Yoga fürs Orchester

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Erfindung des 19. Jahrhunderts: Bei Konzerten des Münchener Kammerorchesters hat Chefdirigent Clemens Schuldt auch mal einen freien Abend. (Foto: Florian Ganslmeier)

Ohne den allmächtigen Pultlöwen auszukommen, kann sehr belebend sein: Das Münchener Kammerorchester verzichtet gerne mal auf seinen Dirigenten.

Von Michael Stallknecht, München

Es war ein wilder Ritt durch die österreichische Musikgeschichte, mit der das Münchener Kammerorchester bei seinem Abonnementkonzert in der vergangenen Woche aufwartete, mit Kompositionen unter anderem von Franz Schubert und Alexander von Zemlinsky, Anton Bruckner und Arnold Schönberg. Nur Chefdirigent Clemens Schuldt durfte den Abend gemütlich Zuhause - oder wo auch immer - verbringen. Denn wie oft beim MKO leitete ihn der Geiger Daniel Giglberger vom Konzertmeisterpult aus.

Das MKO geht damit nicht nur in der Programmwahl regelmäßig weiter als viele andere Kammerorchester, die ihren Fokus vor allem auf Barock und Klassik legen und dabei ohne Dirigent auskommen. Schließlich ist der Dirigent im Wesentlichen eine Erfindung des 19. Jahrhunderts, geschuldet der sukzessiven Vergrößerung der Ensembles, vor allem den erhöhten stilistischen Anforderungen. Komponisten setzten Instrumentalfarben, Dynamik und Tempogestaltung zunehmend individueller ein. Hinzu kamen historische Werke, die immer häufiger ins Repertoire integriert wurden. So konnte das 20. Jahrhundert das "Jahrhundert der Maestri" werden, der Toscaninis, Karajans und Bernsteins, die zu den eigentlichen Akteuren von Orchesterkonzerten avancierten. Doch die Demokratiebewegung der 1970er Jahre rüttelte auch den Musikbetrieb durch und ließ Ensembles entstehen, die lieber ohne allmächtige Pultlöwen auskamen. Womit sie wiederum bereits bestehende wie das MKO anregten, es ihnen regelmäßig nachzutun.

"Ein Dirigent spart Zeit"

Es ist "die Idee, Verantwortung ins Orchester zu geben und zu verteilen", wie Daniel Giglberger am Sonntagnachmittag beim neuen Format "mit & ohne" sagt. Gemeinsam mit der Münchner Volkshochschule hat das MKO in die Halle X des HP 8 zur öffentlichen, vom Cellisten Michael Weiss moderierten Probe geladen. Live kann das Publikum verfolgen, wie bei Schönbergs Zweitem Streichquartett in der Orchesterfassung schnelle Noten koordiniert, Harmonien auf saubere Intonation ausgehört, Lautstärken einzelner Gruppen aufeinander abgestimmt werden. Und eines wird dabei schnell klar: Wie viel Geduld von allen Beteiligten das fordert. Dass ein Abend "vom Konzertmeister geleitet" wird, trifft es für Giglberger nämlich nicht wirklich. Wollte er alles vorgeben, sagt er, könne man ebenso gut einen Dirigenten beschäftigen - der dann nicht nebenher auch noch Geige spielen müsse. Vielmehr geht es um einen offenen Abstimmungsprozess, in den sich vor allem die Stimmführer der einzelnen Gruppen einbringen. Dafür müssen auch die Musiker sich im Vorfeld viel stärker vorbereiten, sich intensiver mit der Partitur als ganzer beschäftigen.

"Ein Dirigent spart Zeit", meint denn auch ganz pragmatisch Clemens Schuldt, wenn er danach mit seinem Orchester an Joseph Haydns 59. Sinfonie arbeitet. Und: "Ein Dirigent kann ein Orchester befrieden." Tempo, Artikulation, Klangfarbe, Lautstärke, Balance: All das kann der Chefdirigent des MKO mittels bloßer Zeichengebung regeln, verbale Kommunikationsmöglichkeiten noch nicht mitgerechnet. Dennoch möchte auch Schuldt nicht auf Konzerte verzichten, bei denen sein Ensemble ohne ihn auskommt. Das Spiel ohne Dirigent sei wie "Yoga fürs Orchester": Geist und Körper der Musiker würden wachgerüttelt, um gemeinsam einen Organismus zu formen. Im Vergleich zu anderen Ensembles könne das MKO deshalb viel flexibler auch auf Impulse von außen reagieren, was für Dirigenten eine "luxuriöse Situation" schaffe. "Die Stimmen bekommen ein anderes Gewicht", so Cellist Michael Weiss. "Das ist ein Gewinn auch für die Gastdirigenten."

Beim nächsten Konzert am kommenden Sonntag will man denn auch wieder ganz ohne auskommen, zumal auf dem Programm diesmal ohnehin nur Klassisches steht, von Mozart und Haydn, die ihre Musik in der Regel vom Cembalo aus leiteten. Beim MKO wird dafür einmal mehr Daniel Giglberger am Konzertmeisterpult einspringen.

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