Spendenaktion:Ein Buch zum Abschied

Lesezeit: 4 min

Ein Ausschnitt aus dem Prototyp des Wimmelbuchs. (Foto: Hartmut Pöstges)

Julia Mailinger arbeitete gerade an einem Wimmelbuch für ihre Nichte, als sie an ihrer Krankheit Mukoviszidose starb. Die Familie will das Projekt der Designerin nun vollenden.

Von Benjamin Engel

Was bleibt, ist die Erinnerung. Zum Beispiel daran, dass Julia Mailinger immer ein positiver, kontaktfreudiger und kreativer Mensch war - trotz ihrer schweren Erkrankung. Man sieht das etwa auf dem Foto, das ihre Familie am Wohnzimmerschrank hängen hat: Die junge Frau mit den rot gefärbten Haaren lacht direkt in die Kamera, ihre Hündin Nera hat sie fest an sich gedrückt.

Noch im vergangenen Juli hatte Julia Mailinger die Idee, ihrer kleinen Nichte Nora zum zweiten Geburtstag ein selbst gestaltetes Wimmelbuch zu schenken. Dafür zeichnete die Frau aus Wolfratshausen Bilder aller Stockwerke ihres Elternhauses. Mit Hilfe ihrer Eltern konnte sie noch einen Prototyp des Buches fertigstellen. Eine gedruckte Version für Nora gibt es bislang nicht. Sie konnte ihr Projekt nicht vollenden. Julia Mailinger ist Ende September mit 39 Jahren an den Folgen ihrer Mukoviszidose-Erkrankung gestorben.

"Sie hatte Spaß daran, etwas für die Kinder zu machen", sagt ihre eineinhalb Jahre jüngere Schwester Sophia. Für deren Tochter Nora habe sie zum Beispiel auch schon einmal ein Mobile gebastelt - und jetzt eben das Wimmelbuch. Nora liebte so etwas. Um das Wimmelbuch fertigstellen und drucken lassen zu können, hat die Familie über die Internetplattform Leetchi nun eine Spendenaktion gestartet. Die fertigen Exemplare wollen die Eltern und Geschwister von Julia Mailinger an Freunde und Bekannte sowie an den Verein Mukoviszidose-Hilfe cfi-aktiv verschenken. An diesen Verein mit Sitz in Geisenfeld möchte die Familie auch das nach Abzug der Druckkosten gesammelte Geld spenden. Für cfi-aktiv hat sich Julias Vater, Friedrich Mailinger, selbst zehn Jahre lang ehrenamtlich engagiert.

Obwohl sie immer schwächer wurde, hat sich Julia Mailinger zwischen Juli und September so oft es ging hingesetzt und die Räume ihres Elternhauses bis ins kleinste Details gezeichnet. Sogar ihr Sauerstoffgerät hat sie abgebildet. Immer mit zu sehen ist ihre Nichte Nora und ihre Hündin Nera, die im vergangenen Juli im Hundealter von 13 Jahren gestorben ist. Auf den Bildern gibt die kleine Nora dem Vierbeiner ein Leckerli oder sie sitzt am Klavier und klimpert. Nur im Keller ist die Hündin nicht zu entdecken. "Da hat sich Nera nicht runtergetraut", erklärt Friedrich Mailinger den Grund. Für seine Tochter hat er die Räume mit allen Details extra fotografiert, damit Julia alles für das Wimmelbuch abzeichnen konnte. Sogar Bilder ihrer Mutter habe sie detailgetreu illustriert, sagt Mailinger.

Julias Schwester Sophia Mailinger. (Foto: Hartmut Pöstges)

Am meisten habe es ihrer Schwester Sophia wehgetan, dass Julia kein gedrucktes Exemplar mehr selbst habe schenken können, erzählt Friedrich Mailinger. Wie die gesamte Familie, tröstet auch er sich damit, dass seine Tochter lebenslustig war, immer gemacht habe, was sie wollte. "Sie hat die Zeit genutzt. Sie war kreativ und optimistisch", sagt er. Und das bei all den Auf und Abs in ihrem Leben.

Mukoviszidose ist eine vererbbare, chronische Stoffwechselkrankheit. In Deutschland wird jedes 2000. Kind damit geboren, wie auf der Homepage von cfi-aktiv nachzulesen ist. Weil der körpereigene Salz- und Wasserhaushalt gestört ist, bildet sich zähflüssiger Schleim. Das belastet vor allem die Lunge sowie die Bauchspeicheldrüse, aber auch andere Organe. Betroffene müssen ein Leben lang Medikamente nehmen, werden mit Inhalations- und Antibiotika-Infusionstherapien behandelt.

Als Baby schien Julia kurz nach der Geburt unauffällig. Sie wirkte gesund, litt allerdings öfters an Durchfall. Erst nach einem Jahr stellten Ärzte in einem Test Mukoviszidose fest. "Julia hat ein normales Leben geführt und alles mitgemacht, nur manchmal eben mit Sauerstoffgerät", sagt ihre Mutter Brigitte. Das Gerät habe eine Freundin auf dem Weg in die Schule für sie sogar auf der Schulter getragen. Als sich die Krankenhausaufenthalte häuften, kam Julia schließlich auf die Warteliste für eine Lungentransplantation. Der für die Familie erlösende Anruf, dass ein Spenderorgan gefunden sei, kam am 16. Dezember 1996. Genau an diesem Tag soll jetzt, 23 Jahre später, die Spendenaktion für das Wimmelbuch enden.

Mit ihrer neuen Lunge konnte Julia Mailinger 15 Jahre lang ohne größere Beeinträchtigungen leben. "Sie ist ganz offen mit ihrer Erkrankung umgegangen", sagt ihr Vater. Seine Tochter habe ein positives Beispiel geben wollen, habe sich oft mit anderen Erkrankten getroffen, um ihnen Mut zuzusprechen. Nach dem Abitur am Geretsrieder Gymnasium ging Julia zunächst für ein Au-pair-Jahr nach Italien. Sie blieb in Monza, studierte Industriedesign und lernte ihren Freund kennen. "Sie hat sich wohlgefühlt", sagt ihr Vater. Julia habe viele Freundschaften geschlossen, Kinder von Bekannten in deutscher Sprache unterrichtet oder im Auftrag ihrer Firma für Kunden exklusive Küchen und Bäder einrichten dürfen. "Sie hat so viel erlebt", sagt Friedrich Mailinger.

Weil der Freund seiner Tochter Hotelfachmann gelernt hatte, zog das Paar mit Hündin Nera 2009 schließlich nach Teneriffa. Dort eröffneten sie eine Bistro-Bar direkt am Meer. Für Untersuchungen im Universitätsklinikum München-Großhadern reiste Julia circa jedes halbe Jahr nach Deutschland zurück.

Bis 2012 schien alles gut zu sein, doch dann wurde Julia wieder krank. Ihr ging es zunehmend schlechter. Die Spenderlunge wurde abgestoßen, eine zweite musste ihr transplantiert werden. Nur eine Woche nach der Operation mussten die Ärzte den linken Lungenflügel entfernen. Es folgten Komplikationen und lange Krankenhausaufenthalte. Erst nach einem Jahr kam Julia wieder nach Hause, lebte fortan mit ihrem Freund in Wolfratshausen. Ihre Familie beschreibt sie als echte Stehaufnatur, die sich nach jedem Rückschlag wieder aufgerappelt habe und nie zu sehr jammern wollte. Sie habe auch nie vergessen, ihren Organspendern zu danken, die ihr wertvolle 23 Jahre geschenkt haben, betont Friedrich Mailinger.

Für das Wimmelbuch hat Julia Mailinger die Räume ihres Elternhauses bis ins kleinste Detail gezeichnet. (Foto: Hartmut Pöstges)

So unkompliziert wie nach der ersten Transplantation wurde Julias Leben aber nie mehr. Sie musste mehrmals in der Woche zur Dialyse. Trotzdem verreiste sie mit ihrem Freund, traf sich oft mit Bekannten. In der übrigen Zeit war sie, so gut es eben ging, noch zeitweise berufstätig. Als sie im Juli mit dem Wimmelbuch begann, war sie noch guter Dinge. Auf dem Wirtefest in Wolfratshausen im September habe er seine inzwischen auf den Rollstuhl angewiesene Tochter noch zum Tanzen begleitet, erzählt ihr Vater. Bis zuletzt habe er noch gedacht, dass Julia ihre gesundheitlichen Beschwerden auch diesmal wieder überwinden werde. Doch ihr Körper habe nicht mehr mitgemacht.

In all den Jahren habe er am meisten gelernt, wie wichtig familiärer Zusammenhalt sei, sagt Friedrich Mailinger. Julias Leitspruch hat die Familie ganz oben auf die Traueranzeige drucken lassen. "Es kommt nicht darauf an, wie lange man lebt, sondern wie intensiv man lebt."

© SZ vom 29.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: