Wäre nur dieser eine Tag nicht gewesen, dieser 21. August 1985: "Danach war nichts mehr so wie vorher", sagt Bernhard Claus. Wenn der heute 55-Jährige von damals erzählt, wird schnell klar, warum das so ist.
Geboren in Ostwestfalen, wuchs er im hessischen Hofheim bei Frankfurt im Haus seiner Eltern auf. Nachdem er mit 19 Jahren den Realschulabschluss gemacht hatte, arbeitete er als Heizungsinstallateur im Betrieb des Vaters. Das sollte aber nur eine Zwischenstation sein. Später, im Anschluss an die Bundeswehr, wollte er eine Lehre als Kunstschreiner absolvieren. Doch dazu kam es nie.
Nach einem Handballspiel, das er für seinen Verein, den TV 1860 Hofheim, gepfiffen hatte, wollte er den Freund eines Freundes gegen 22 Uhr auf dem Motorrad nach Hause fahren. Die vier Kilometer lange Strecke von Hofheim den Berg hinauf nach Langenhain war er schon öfter gefahren. Er wusste also, was ihn erwartete. Was für ein tragischer Irrtum: Weder hatte er getrunken, noch war er zu schnell unterwegs - und doch fuhr er nach einer eher leichten Kurvenkombination frontal in ein entgegenkommendes Auto.
Wieso er auf die falsche Straßenseite geriet, weiß Claus bis heute nicht: "Mir fehlen in der Erinnerung zwei Minuten vor dem Unfall." Sein Beifahrer überstand den Crash relativ glimpflich, sofern man das nach dem Verlust von zehn Zähnen sagen kann. Ihn selbst hingegen hatte es schlimm erwischt: Nase, Jochbein, ein Ellbogen und beide Knie waren gebrochen. Die größte Verletzung aber erahnte Bernhard Claus zunächst eher, als dass er sie realisierte, als er acht Stunden später im Krankenhaus aufwachte und feststellte: "Ich sehe nicht." Zwar hatte er bei dem Zusammenprall nur eine Gehirnerschütterung erlitten, aber der Sehnerv in beiden Augen war durchtrennt worden.
Drei Wochen später wurde der damals 22-Jährige aus dem Krankenhaus in Frankfurt-Höchst entlassen. "Da war klar, dass ich nicht mehr sehen werde", sagt er - auch wenn er das anfangs nicht glauben wollte und konnte. Es folgte ein Jahr, in dem er sich fast nur in der Wohnung aufhielt. "Ich hab' mich nicht mehr aus dem Haus getraut, weil ich dachte, ich finde nicht mehr zurück." Es war eine Zeit der Erstarrung, aus welcher er sich nur langsam befreien konnte. Seine Eltern versuchten ihn zu unterstützen, so sie nur konnten. Doch im Grunde waren sie von der Situation überfordert wie ihr Sohn. Es war auch eine Zeit, in der sich dessen persönliches Umfeld neu sortierte: So mancher Bekannte meldete sich nicht mehr bei ihm, einige Freunde hielten ihm dagegen umso mehr die Treue und hielten ihn aufrecht.
Ein halbes Jahr nach dem Unfall ging er auf Reha nach Marburg. Dort absolvierte er eine "behindertentechnische Grundausbildung". Denn als Blinder musste er von Neuem lernen, zu kochen, zu essen, zu bügeln, mit dem Langstock zu gehen oder Schreibmaschine zu schreiben. Kurzum, er musste all die Fertigkeiten erwerben, derer es bedarf, um den Alltag zu bewältigen. Darüber hinaus war ihm der Austausch mit anderen Blinden wichtig, um neue Perspektiven zu entwickeln.
Dazu gehörte, dass er 1989 das Abitur nachholte. Denn ohne Hochschulreife, so Bernhard Claus, hatte ein Blinder früher beruflich so gut wie keine Wahl: Viel mehr als Masseur, Besenbinder oder Schreibkraft war nicht im Angebot. So aber konnte er studieren. Allerdings merkte Claus nach wenigen Semestern Volkswirtschaftslehre und anschließend Jura, dass das Studieren doch nicht seine Sache war. Schließlich absolvierte er die Ausbildung zum Datenverarbeitungskaufmann. Mit 30 Jahren hatte er seinen Abschluss.
Im gleichen Maß, wie sich Bernhard Claus die Welt Schritt für Schritt zurückeroberte, wurde ihm Marburg zu klein. Und da ihn München als Stadt schon lange gereizt hatte, zog er 1995 in den Vorort Unterhaching. Dort verkaufte er in einer Firma Computerhilfsmittel für Blinde und schulte andere im Umgang damit. Allerdings hatte er regelmäßig eine 50-Stunden-Woche, Entlastung war nicht in Sicht. Das ging so weit, dass er Urlaub in Kuba machte, nicht zuletzt deshalb, weil ihn sein Chef dort nicht per Handy erreichen konnte.
Schließlich aber reichte es Claus und er kündigte. Sein nächster Job führte ihn 2002 schließlich - zum ersten Mal - zum Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbund (BBSB). An der Arnulfstraße 22, wo der Verein seinen Sitz hat, trat er die Stelle eines Assistenten der Geschäftsführung an. Eine für Claus befriedigende Erfahrung, konnte er doch als "Lobbyist in eigener Sache" wirken, wie er sich erinnert.
Ebenso groß war aber offenbar seine Lust auf neue Erfahrungen und Herausforderungen. Und so wechselte er nach sechs Jahren noch einmal in eine ganz andere Branche: Von 2008 bis Mitte 2018 war er beim Konzern Bayerngas in der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit zuständig für die firmeninterne Kommunikation. Die Arbeit in einem guten Team erlebte er als sehr befriedigend. Gleichwohl räumt er ein, dass er als Blinder auch an Grenzen stieß, wenn zum Beispiel in Präsentationen viele Grafiken verwendet wurden. Letztlich waren es aber anscheinend mehrere Rationalisierungsrunden bei Bayerngas, die ihn nach zehn Jahren bewogen, den Arbeitgeber zu wechseln.
Wobei es sich letztlich um eine Rückkehr handelte: Seit Juli ist er zurück beim BBSB, sein Titel lautet nun "Mitarbeiter für Barrierefreiheit und Öffentlichkeitsarbeit in der Bezirksgruppe Oberbayern/München". Und auch jetzt gilt für ihn wieder: Die Arbeit in eigener Sache macht Spaß. "Ich bin viel unterwegs und mache zum Beispiel Begehungen", erzählt Claus. Wie es der Zufall will, hat er im Anschluss an das Gespräch mit der SZ einen solchen Termin: Am Holzkirchner Flügelbahnhof soll ein Blindenleitsystem installiert werden, das er zuvor begutachtet. Daneben macht er auch Schulungen und hält Vorträge zum Thema Barrierefreiheit in Behörden. Außerdem unterweise der BBSB auch Personal der Bahn, wie mit Blinden richtig umzugehen ist, sagt Claus.
Neben der Arbeit genießt er bewusst seine Freizeit. "Skifahren ist meine große Leidenschaft", gesteht er. Regelmäßig zieht es ihn mit einem Regensburger Skiverein, der Guides für Blinde ausbildet, in die Berge. Und im Sommer geht er zum Joggen, um für die Wintersaison fit zu sein. Dabei hat er das "richtige Skifahren", wie er erklärt, erst nach seiner Erblindung erlernt.
All das teilt er heute ganz selbstverständlich wie viele Familienväter mit seiner Frau Brigitte, die er 2010 geheiratet hat, und der elfjährigen Tochter Sarah. Sie leben heute in Feldmoching. Dass der Weg bis hierhin hart und steinig war, darf man annehmen. Doch von Verbitterung ist nichts zu spüren, wenn Bernhard Claus nach mehr als 30 Jahren zurückblickt auf den Motorradunfall. "Das Einschneidendste war der Verlust der Selbständigkeit." Bis zu diesem Wendepunkt in seinem Leben habe er alles alleine machen können. "Und das wollte ich wieder erreichen: Ich wollte nicht zu Hause sitzen und mich bedienen lassen." Wer ihn kennt, käme wohl kaum auf diese Idee.
Nächste Folge: Eine Familie versucht den Umstieg auf ein Leben möglichst ohne Plastik.