München:"Viele kleine Dinge tun"

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Nach Afrika wollte Marianne Dötzer nie, dennoch wurde Benin ihr Schicksal. Dort arbeitete sie als Kellnerin, wurde Hebamme, lief für das Land bei den Olympischen Spielen 1972 ins Stadion ein, baute die Volleyball-Nationalmannschaft auf, wurde Kamerafrau und leitet eine Hilfsorganisation

Von Ulrike Steinbacher

Sie ist ein anderer Mensch in Afrika, finden ihre Freundinnen: selbstsicher, bestimmt, eine Autorität. Marianne Dötzer zuckt mit den Schultern. Zurückhaltend und bescheiden wirkt die zierliche Frau, die da im Garten in Harlaching auf ihrem Stuhl wippt. Sehr willensstark muss sie auch sein, sonst wäre ihr Leben anders verlaufen. Für die Arbeit in Afrika hat die 74-Jährige 2015 das Bundesverdienstkreuz bekommen. Es sind wieder die Freundinnen, die das erzählen. Sie selbst zuckt wieder mit den Schultern. "Mei", sagt sie in reinem Münchner Bairisch, "das vergess' ich immer."

Aufgewachsen ist Marianne Dötzer in der Albrechtstraße in Neuhausen, "im damaligen Glasscherbeneck", als mittleres von fünf Kindern. Und dass es sie nach Afrika verschlagen würde, war keineswegs ausgemacht. Aber dass sie grundsätzlich den schwierigen Weg wählt, wenn es einen schwierigen Weg gibt, das ist eine Konstante in ihrem Leben. "Ich war immer in der falschen Trambahn", sagt sie selber. Schreinerin wollte sie nach der Volksschule werden, doch 1958 war eine solche Lehre für Mädchen schlicht nicht vorgesehen. Und der einzige Meister, der sie zumindest zum Vorstellungsgespräch kommen ließ, sagte beim Anblick der schmalen 14-Jährigen: "Was willst denn du? Du kannst ja nicht mal einen Hammer heben." Also machte sie stattdessen eine Dekorateurslehre bei Sport Schuster, arbeitete dort zwei Jahre und wollte dann Innenarchitektur studieren. Dafür brauchte sie ohne Abitur noch eine Ausbildung zur Restaurateurin; eine weitere zur technischen Zeichnerin hängte sie dran, "einfach so, weil's mich interessiert hat". Da habe man nämlich als Frau auf dem Bau arbeiten dürfen. "Handwerklich hab' ich alles können", fasst Dötzer zusammen. Das Autoreparieren habe sie schon vom Vater gelernt.

"Wema" heißt auf Mahi "beschriebenes Papier", "home" heißt "Haus". Seit 25 Jahren setzt sich Marianne Dötzer mit ihrem Verein Wema-Home für Projekte in Benin ein. (Foto: Wema-Home e. V.)

Innenarchitektin ist sie aber nie geworden. Die Wartezeit auf den Studienplatz dauerte zwei Jahre, "und da wollt' ich nicht rumhängen. Ich hab' gedacht, schaust dir die Welt an". Also unterschrieb sie 1967 mit 23 Jahren einen Zweijahresvertrag beim Deutschen Entwicklungsdienst (DED). Nepal war ihr Sehnsuchtsland, das Bergsteigen in der Freizeit fest eingeplant, die Stelle als Lehrerin für Werken und Sport in Aussicht. Allerdings stellte sich heraus, dass sie an einer muslimischen Knabenschule unterrichten sollte, wo eine Frau im Sport natürlich tabu war. Südamerika, ihr zweiten Wunschziel, war gerade ausgebucht. Und so landete Marianne Dötzer dort, wo sie überhaupt nicht hinwollte: in Afrika.

Die Abneigung war offenbar gegenseitig. In Togo hatte sie einen schweren Mopedunfall, kam nicht mehr auf die Beine. Der Entwicklungsdienst wies ihr neue Arbeit in der Zentrale in Bad Godesberg zu. "Erste-Hilfe-Päckchen packen und Registratur", seufzt sie und verdreht 50 Jahre später noch die Augen. Also zog sie auf eigene Faust und auf eigene Kosten von Neuem los, eine Kinderbetreuungsstelle in Dahomey, dem heutigen Benin, in Aussicht.

Dieser zweite Versuch hätte vermutlich jeden anderen endgültig abgeschreckt: Bei der Zwischenlandung in Lagos wurde Marianne Dötzer von Polizisten aus dem Flugzeug geholt, warum, weiß sie bis heute nicht. "Ich hab' Panik geschoben ohne Ende." Dass die deutsche Botschaft sie nach drei Tagen aus dem nigerianischen Knast holte, hatte sie ihrem Sitznachbarn im Flugzeug zu verdanken, der die Verhaftung mitbekam und Alarm schlug. Aus dem Gefängnis brachte sie Typhus mit, die Stelle in Dahomey war weg. Wie andere gestrandete Weiße kam sie in der Hauptstadt Cotonou bei einem Schweizer unter, der ihr erbitterter Feind wurde, als ihr eine Aktentasche mit seinem Geld gestohlen wurde. Ein alter Freund in München holte sie aus der Klemme und lieh ihr die Summe zinsfrei. Es folgten zwei Monate als Bedienung in einer Seemannskneipe. Und trotz allem hatte sie noch immer nicht genug von Afrika. "Es war wie ein Magnet, der mich da festgehalten hat."

In den Achtzigerjahren: Marianne Dötzer als Kamerafrau bei Dreharbeiten in Benin. (Foto: Wema-Home e.V.)

Und dann wurde alles gut: Dötzer floh zu einer befreundeten Krankenschwester aufs Land, lernte dort den Hebammenberuf, der DED stellte sie wieder ein und schickte sie in ein kleines Dorf weiter im Norden. "Da hab' ich dann gedacht, ich bin zu Hause", schildert Marianne Dötzer das Gefühl, als sie Gobada zum ersten Mal betrat. Bis die Bewohner das genauso sahen, verging aber noch viel Zeit. Sie blieb eine Fremde. Erst als sie begann, selber Land zu bestellen, fiel sie aus der Rolle der perfekten Entwicklungshelferin: "Plötzlich gab's eine Weiße, die nicht alles wusste." Dötzer benennt da nebenbei eins der großen Missverständnisse der Entwicklungshilfe: "Wir meinen immer, wir müssen den Leuten dort unsere Kultur überstülpen. Das mögen die einfach nicht."

Drei Jahre lang betreute Marianne Dötzer die Erste-Hilfe-Station in Gobada, versorgte Kranke, half 113 Kindern auf die Welt. Als ihr Zeitvertrag zu Ende war, kam sie kurz vor den Olympischen Spielen 1972 zurück nach München und meldete sich auf eine Zeitungsannonce, mit der eine Mannschaftshostess gesucht wurde - ausgerechnet für Sportler aus Dahomey. Die allererste Olympiamannschaft des Landes bestand nur aus zwei Boxern, Fliegengewicht und Halbfliegengewicht. "Die waren kleiner als ich", erzählt sie. Und sie hatten weder Trainingsanzüge noch Ausrüstung, weil ein Funktionär das Geld dafür abgezweigt hatte, um ein Auto zu kaufen. Also brachte Marianne Dötzer ihre Boxer in die Zeitung, die Münchner spendeten für die Ausrüstung, nahmen die jungen Männer auf Ausflüge mit. Und weil die zwei ein bisschen schüchtern waren, lief Marianne Dötzer gemeinsam mit ihnen bei der Eröffnungsfeier im Olympiastadion ein. "Das war schön", sagt sie mit verklärtem Blick. "Da oben das olympische Feuer. Und die vielen Leute. Gänsehaut."

Marianne Dötzer als Hebamme 1970 in Gobada mit einem Frühchen. (Foto: Wema-Home e.V.)

Mit ihrem nächsten Entwicklungshilfevertrag bekam die leidenschaftliche Sportlerin den Auftrag, eine Volleyball-Liga samt Nationalmannschaft aufzubauen. Dafür fuhr sie eineinhalb Jahre lang kreuz und quer durch Benin. Die Freundschaften mit jungen Sportlern, die sie damals knüpfte, sind heute ihr Netzwerk. Längst sprach sie Französisch, ein bisschen Fon und fließend Mahi, eine der 60 Stammessprachen in diesem Zehn-Millionen-Einwohner-Land. Nebenbei hatte sie per Fernstudium auf Französisch ihr Abitur gemacht. Und dann wollte sie mit einem Mal zurück nach München. Der Magnet Afrika hatte seine Anziehungskraft verloren.

Aber im geregelten Alltag Mitteleuropas wieder Fuß zu fassen, fiel ihr schwer. Schwester im durchregulierten Krankenhausbetrieb kam nicht in Frage, die Deko bei Sport Schuster war nur eine erste Station, eine Arbeit als Bauzeichnerin am Vogelweideplatz gab sie gleich wieder auf. Stattdessen ging sie putzen, renovierte Wohnungen. Zu ihrem nächsten Beruf kam sie, weil sie immer noch Volleyball spielte. So lernte sie eines Abends den Fernsehjournalisten Ekkehard Bauer kennen. Dötzer wurde seine Assistentin und schließlich Kamerafrau. "Das war ja damals noch kein Ausbildungsberuf", erklärt sie den Werdegang. Die Frau, von der es hieß, sie sei zu klein, um einen Hammer zu heben, schulterte nun von Berufs wegen 13 Kilo Ausrüstung. "Ekkes Kamerafloh" war ihr Spitzname. 24 Jahre lang drehte Marianne Dötzer mit Bauer, vor allem für das Schülersport-Magazin Auf die Plätze, eine Zusammenarbeit "so wie die Liesl Karlstadt vom Karl Valentin", beschreibt ihre Freundin Renate Wagner.

Marianne Dötzer 1972 mit zwei Olympia-Boxern aus Benin. (Foto: Wema-Home e.V.)

Benin blieb für Marianne Dötzer in dieser Zeit ein fernes Land. Bis sie 1989 einen Brief aus Gobada bekam, in dem von einer großen Totenzeremonie die Rede war. Das wollte sie sich als Kamerafrau nicht entgehen lassen, plante eine Doku fürs Fernsehen. Aber wie immer in Afrika kam alles ganz anders: Bei der Ankunft stellte sich heraus, dass der Brief für den Weg nach Europa zwei Jahre gebraucht hatte, die Zeremonie längst vorbei war. Stattdessen erfuhr Dötzer aber, wie es ist, nach Hause zu kommen: "Die Buschtrommeln haben uns schon angekündigt, als wir noch 15 Kilometer von Gobada weg waren", erinnert sich ihre Lebenspartnerin Alice Sücker. "Dann sind wir da reingefahren und alle kamen gelaufen und riefen ,Maliam, Maliam'. Das war unglaublich." Gedreht haben sie auch noch. Aus einer Regenzeremonie, viel Improvisation und der Hilfe einer guten Cutterin wurde die Doku "Und gib uns Regen".

Aber die Frauen brachten noch mehr zurück aus Afrika: den Wunsch zu helfen. Und weil Marianne Dötzer das Land und die Menschen kennt, war die Stoßrichtung schnell klar. Hilfe zur Selbsthilfe sollte es sein, Projekte, die weiterlaufen, wenn kein Weißer darauf aufpasst. 1993 gründeten sie den Verein Wema-Home. Um die deutsche Seite samt Spendensammeln kümmert sich Alice Sücker, um die Projekte in Benin Marianne Dötzer. "Wema" heißt auf Mahi "beschriebenes Papier", "home" heißt "Haus". In dem Haus, in dem man lernt, auf Papier zu schreiben, sollen vor allem Frauen und Kinder gefördert werden. "Ohne Bildung keine Zukunft", lautet eine Maxime des Vereins. Die Projekte, aufgelistet auf der Webseite wema-home.de, sind stets überschaubar - der Bau von Latrinen, um Krankheiten einzudämmen, der Kleinkredit für einen Brotofen, der Gobada zu einer Bäckerei verhalf, oder die Bandsäge für die Schreinerwerkstatt, in der mittlerweile fünf Meister und sechs Lehrlinge arbeiten. Grundschulkinder kümmern sich um die jardins sacrés, ein Partnerprojekt von Jane Goodalls "Roots & Shoots": Die Kinder schützen kleine Areale vor Buschfeuer und Eindringlingen und ermöglichen so, dass sich der ausgelaugte Boden regeneriert. Angefangen hat das Brachlandprojekt 2001, mittlerweile sind 107 Grundschulen mit dabei.

Wenn Marianne Dötzer E-Mails verschickt, ist ganz unten eine afrikanische Weisheit zu lesen: "Viele kleine Leute, die in vielen kleinen Orten viele kleine Dinge tun, können das Gesicht der Welt verändern."

Nächste Folge: Vom Oberleutnant zum Diakon

© SZ vom 28.08.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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