München:Tagebuch eines Notbetriebs

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"Neuer Tag, neue Regeln, so fühlt sich das gerade an": Angela Zacher, Pressesprecherin der Münchner Tafel, hat derzeit viel zu tun. (Foto: Florian Peljak)

Gut 20 000 Menschen sind auf die Münchner Tafel angewiesen. Der Betrieb läuft weiter, jedoch unter schwierigen Bedingungen: Angela Zachers Chronik über die angespannte Lage von Helfern und Hilfsbedürftigen

Protokoll von Stefanie Witterauf

Angela Zacher, 40, arbeitet seit 2018 als Pressesprecherin bei der Münchner Tafel. Für die Süddeutsche Zeitung hat sie ein Tagebuch während der Corona-Krise geführt. Es dokumentiert, dass sich die Organisation und deren Kunden beinahe täglich auf neue Gegebenheiten einstellen müssen, offenbart aber auch eine große Hilfsbereitschaft der Münchner - und dass Falschmeldungen den Helfern das Leben schwer machen können.

Dienstag, 17. März 2020, 359 Infizierte in München (Quelle: Stadt München)

Es ist mein zweiter Tag nach dem Urlaub. Wir haben 20 000 Bedürftige, die auf uns angewiesen sind. 125 Tonnen Lebensmittel, die wir wöchentlich in unterschiedlichen Stadtteilen von Montag bis Samstag verteilen. Unsere Ehrenamtlichen, die uns unterstützen sind oft Rentner. Das sind die, die jetzt zur Risikogruppe gehören und derzeit pausieren. An einer unserer 27 Ausgabestellen waren heute nur drei statt zwölf unserer regelmäßig aktiven Ehrenamtlichen da. Zum Glück konnten wir mit jungen Menschen aufstocken, die durch die Pandemie mehr Zeit haben.

Mittwoch, 18. März, 509 Infizierte

Tag drei nach Corona, so habe ich angefangen, die Tage zu zählen. In manchen Städten werden wegen der Hamsterkäufe die Lebensmittelspenden knapp. In München ist das anders. Wir haben ein ganz eigenes System aus Spendern und Sponsoren, das wir seit Beginn der Tafel aufgebaut haben. Bei uns gibt es viel Obst, Gemüse sowie Dinge, die ein Mindesthaltbarkeitsdatum haben.

Donnerstag, 19. März, 676 Infizierte

Wir sind zu siebt im Büro. Mehr als zehn sind es in den letzten Tagen nie geworden. Normalerweise sind wir doppelt so viele. Das Telefon klingelt ununterbrochen. Es melden sich Gastro-Betriebe, die Lebensmittel spenden wollen. Doch unsere Kapazität ist erreicht, wir müssen absagen. Außerdem junge Münchner, die gehört haben, dass wir an den Ausgabestellen Unterstützung brauchen. Wir nennen sie die "Schnelle Truppe", denn sie waren gleich zur Stelle, sodass wir sie einarbeiten konnten.

Freitag, 20. März, 878 Infizierte

Die Ausgangsbeschränkungen in Bayern haben uns vor neue Herausforderungen gestellt. Ab Montag haben wir nur noch eine zentrale Ausgabestelle am Großmarkt, wo der Sicherheitsabstand gut eingehalten werden kann. Wir müssen unsere Gäste über die Sozialen Netzwerke und unsere Website informieren. Ich habe den Blick einer Studentin gesehen, wie überrascht sie von der Armut in München ist; sie ist eine der Neuen in der "Schnellen Truppe". Viele sehen Armut nicht. Die Menschen, die auf uns angewiesen sind, denen man nicht zuhört, die man nicht sieht. In den letzten Tagen habe ich deren unendliche Dankbarkeit mitbekommen.

Samstag, 21. März, 1042 Infizierte

Eigentlich wäre heute mein freier Tag. Aber natürlich lässt mich meine Arbeit nicht los. Die Polizei fährt durch die Straßen und verkündet mit Lautsprechern, dass wir daheim bleiben sollen. Wir müssen noch Ankündigungen auf Arabisch und Russisch übersetzen. In unserem Netzwerk wird sich schon jemand finden.

Sonntag, 22. März (keine Angabe)

In der Nacht hat es geschneit, der Schnee ist liegen geblieben. In meiner Straße waren schon Schneeballschlachten. Die Texte sind übersetzt. Ich bin jeden Tag begeistert, wie hilfsbereit die Gesellschaft ist. Ich muss den nächsten Aufruf starten, wir brauchen Mundschutz-Nachschub. Die sind gerade Mangelware, deswegen habe ich an Tattoo- und Kosmetikstudios appelliert, die ja eh gerade geschlossen sind.

Montag, 23. März, 1316 Infizierte

Neuer Tag, neue Regeln, so fühlt sich das gerade an. Mit einem Kollegen habe ich an den Außenstellen Aushänge gemacht, damit wir wirklich alle unsere Tafelgäste zur zentralen Ausgabestelle lotsen. Wir haben ein Info-Telefon für unsere Tafelgäste eingerichtet und tagesaktuelle Neuigkeiten aufs Band gesprochen. Außerdem haben wir noch eine Hotline eingerichtet für neue Helfer und eine für Lebensmittelspenden. Es gibt nun einige Hilfsorganisationen, die für Bedürftige die Lebensmittel abholen dürfen, wenn diese es selbst nicht können. Die bündeln wir und geben sie an unsere Gäste raus. Heute war etwa die Hälfte der Bedürftigen da. Es ist eine große Umstellung, doch das wird sich schon einpendeln. Durch ein paar spontane Spenden haben wir genug Schutzmasken, damit kommen wir gut durch die Woche. Dann müssen wir schauen, wie es weitergeht. Sechs Ehrenamtliche nähen gerade Masken aus Stoff.

Mittwoch, 25. März, 1576 Infizierte

Ich habe etwa 850 bis 1000 Masken eingesammelt. Ein Gitarren-Reparateur hat uns 300, die Kostümabteilung aus der Bayerischen Staatsoper einige selbst genähte Masken gespendet - mit Sternen und Punkten, aus solider Baumwolle, die man auch bei 95 Grad waschen kann. Aber auch Privatpersonen haben selbst genäht oder gespendet. In einem Päckchen mit Mundschutzen war ein Zettel mit dieser Nachricht dabei: "Hallo liebes Team der Tafel, mein Mann hat in einem Anfall von Panik die Masken bestellt. Wir haben sie nicht geöffnet. Ich konnte ihn überzeugen, dass wir lieber Ihre Arbeit unterstützen. Danke für den tollen Job und bleiben Sie gesund." Bleiben Sie gesund, das hört man dieser Tage häufig.

Donnerstag, 26. März , 1687 Infizierte

In München gibt es jetzt Gaben-Zäune, da werden an das Geländer Taschen gebunden mit Lebensmitteln oder anderen Spenden. Das finde ich gut, aber diese Initiativen sind nicht mit uns abgestimmt und verwirren. Es rufen uns viele Bedürftige an, weil sie Angst haben, wir hätten geschlossen. Die Tafel ist und bleibt weiter geöffnet!

Montag, 30. März, 2501 Infizierte

Wir informieren jetzt auch über den Wochenanzeiger, der liegt kostenlos aus, deswegen schauen viele unserer Tafelgäste rein. Eigentlich habe ich eine Vier-Tage-Woche, aber gerade gibt es so viel zu tun. Jeden Abend nach der Ausgabe bespreche ich die Mailbox unserer Hotline.

Dienstag, 31. März, 2699 Infizierte

Ich war sehr wütend, das passiert mir sonst sehr selten. Eine Webseite hat geschrieben, dass uns die Lebensmittel ausgegangen sind. Das stimmt nicht! Und ich muss mich jetzt damit auseinandersetzen, meine Bedürftigen beruhigen, die uns anrufen. Seit einer Woche war der FC Bayern Basketball bei uns und hat mit angepackt. Alle haben eine Maske getragen, auch ich. Ich winke den Gästen jetzt, weil man mein Lächeln nicht mehr sieht.

Donnerstag, 2. April, 3099 Infizierte

Wir haben unsere Uhrzeiten für die Essensausgabe entzerrt, damit nicht alle auf einmal kommen. Aus zwei Zeiten haben wir jetzt vier gemacht. Junge Modemacher haben ein Shirt mit dem Aufdruck "Das ganze Virus ein Depp" verkauft. Die Einnahmen von 3120 Euro haben sie uns gespendet. Davon können 40 Bedürftige ein ganzes Jahr bei uns Lebensmittel bekommen. Der Fußballer Jérôme Boateng hat eine Sofortspende gemacht. Die brauchen wir, weil wir mehr Geld ausgeben müssen für Handschuhe, Gesichtsmasken und Hygieneartikel. Damit kommen wir jetzt gut zwei Wochen aus.

Freitag, 3. April , 3304 Infizierte

Erst fehlen die Masken, jetzt gibt es keine Einweghandschuhe! Die Lieferanten können erst im Dezember liefern. Ich muss wieder Aufrufe machen. Jeden Tag gibt es was Neues!

© SZ vom 04.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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